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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Toni Mayr>

Verhaltensauffälligkeiten bei Vorschulkindern

maßnahmen bedeutsamen Frage ausein­anderzusetzen, inwieweit mit solchen Störungen andere Anomalien einherge­hen. Erste empirische Studien, etwa zum Zusammenhang von funktionellen Sprechstörungen und psychologisch-psy­chiatrischen Auffälligkeiten, erbrachten aber, so das Resümee von Goodstein (1958) und Bloch& Goodstein(1971), nicht zuletzt wegen der methodischen Mängel dieser Arbeiten zunächst keine konsistenten Ergebnisse. Zu einem an­deren Schluß kommen Cantwell& Baker (1977) in einer späteren Übersichtsar­beit: Aufgrund der bis zu diesem Zeit­punkt vorliegenden Ergebnisse bestehen danach zumindest begründete Anhalts­punkte u.a. für

eine erhöhte Prävalenz von psychia­trischen Auffälligkeiten bei sprech­und sprachgestörten Kindern,

eine Assoziation zwischen der Art einer Sprech- bzw. Sprachstörung und dem Risiko einer psychiatrischen Störung(dieses scheint geringer bei einer reinen Sprechstörung, vergli­chen mit einer umfassenderen Sprach­beeinträchtigung(a) und höher bei ei­ner Störung der Sprachrezeption als bei einer solchen der Sprachexpres­sion(b)),

Zusammenhänge zwischen bestimm­ten Z7ypen von Sprach-/Sprechstörun­gen und psychiatrischen Auffälligkei­ten und

eine Korrelation zwischen der Schwere und Dauer einer Sprach-/Sprechstö­rung einerseits und der Art und Schwe­re einer psychiatrischen Störung an­dererseits.

Das Interesse der Forschung galt in der Folgezeit vor allem der Überprüfung der ersten These von der erhöhten Prävalenz psychiatrischer Störungen. Diese konnte zum einen durch Untersuchungen, die an Klienten von Sprachheilkliniken oder entsprechenden sonderpädagogischen In­stitutionen durchgeführt wurden, bestä­tigt werden(vgl. Amorosa et al. 1986 b; Cantwell et al. 1979; Ingram 1959; Lind­holm& Touliatos 1979; Mattison et al. 1982); sie wird zum anderen aber auch durch die Ergebnisse von Studien gestutzt, in denen(vgl. hierzu auch die

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ältere Arbeit von Wylie et al. 1965), umgekehrt, die Prävalenz von Sprach-/ Sprechstörungen innerhalb einer kinder­psychiatrischen Klientel ermittelt wurde. So wiesen nach Chess& Rosenberg(1974) 24% der Patienten einer privaten kinder­psychiatrischen Praxis Sprech- und Sprachstörungen auf. Für das Kranken­gut einer kinderpsychiatrischen Klinik (Diagnosen nach DSM III vor allem Auf­merksamkeitsstörung/Hyperaktivität(a), Erziehungsschwierigkeiten/Aufmerksam­keitsstörung/Hyperaktivität(b) und Er­ziehungsschwirigkeiten(c)) berichten Gualtieri et al.(1983), daß wenigstens die Hälfte der Kinder mittel bis schwer in ihrer Sprachentwicklung gestört war. In der Untersuchung von Love& Thomp­son(1988) wiesen fast zwei Drittel aller Kinder(Vorschulalter), die wegen ernster psychiatrischer Probleme eine psychiatri­sche Ambulanz aufsuchten, auch Sprach­Störungen auf: ‚Language disorders, then, may be as common in psychiatric populations as psychiatric symptoms are in populations of language disordered children(Gualtieri et al. 1983, 168).

Bestätigt werden diese an jeweils unter­schiedlichen Patientengruppen gewonne­nen Resultate schließlich auch durch die Befunde an größeren, institutionell nicht vorausgelesenen Stichproben. Screening­Untersuchungen von Stevenson& Rich­man(1976, 1978), Jenkins et al.(1980), Richman et al.(1982) und McGuire& Richman(1986) ergeben, daß Kinder mit Sprech- und Sprachstörungen, verglichen mit einer sprachlich unauffälligen Kon­trollgruppe, signifikant mehr Verhaltens­probleme aufweisen. Beitchman et al. (1986b) berichten, daß Kinder, deren Sprach- bzw. Sprech-Testwerte mehr als eine Standardabweichung unter dem Mittelwert liegen, zu ca. 50% eine nach DSM III diagnostizierbare psychiatrische Störung aufweisen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Esser et al.(1983) bei einer epidemiologischen Studie an ca. 400 8jährigen normalintelligenten deut­schen Grundschülern. Bei einer Insgesamt­Prävalenz von 6%(Sprachentwicklungs­verzögerung) bzw. 10,6%(Sprechstö­rung) wurden bei 50% der sprachentwick­lungsverzögerten und 41% der sprechge­störten Kinder psychiatrische Auffällig­

HEILPÄDAGOGISCHE

keiten diagnostiziert. Zusammenhänge zwischen Sprach- und Verhaltensauffällig­keiten sind aber nicht nur in Querschnitt­studien nachweisbar: Längsschnittstu­dien zeigen, daß frühe Manifestationen von Sprachstörungen Prognosen erlauben über das Auftreten von Verhaltensauffäl­ligkeiten in späteren Entwicklungssta­dien: Vorhersage 3 auf 8 Jahre bei Rich­man et al.(1982), 35 Jahre auf 11,5 Jahre bei Lerner et al.(1985) und 3 auf 8 Jahre bei Stevenson et al.(1985). Absicht der vorliegenden Studie ist es, an einer großen institutionell nicht vor­ausgelesenen Stichprobe von Vorschul­kindern die Assoziation von Sprach­und Verhaltensstörungen unter beson­derer Berücksichtigung des Schweregra­des der Sprech- bzw. Sprachstörung zu untersuchen. Was den Bereich der Ver­haltensauffälligkeit anlangt, sollen, über die bisher in epidemiologischen Untersu­chungen üblicherweise getroffenen Fest­stellungen eines erhöhten Gesamtscores hinaus, im Rahmen eines dimensionalen Klassifikationssystems differenziertere Informationen über die Qualität hier re­levanter Verhaltensabweichungen gewon­nen werden. Die praktische Bedeutung dieser Fragestellungen ergibt sich zum ei­nen aus der epidemiologischen Situation, d.h. hier vor allem aus der in vielen Prä­valenzstudien nachgewiesenen weiten Verbreitung gerade leichter Sprech- und Sprachanomalien bei Vorschulkindern, sie folgt zum anderen aus der Notwen­digkeit, auch für diese Kinder adäquate diagnostische und therapeutische Ange­bote zu gewährleisten.

Untersuchungsgang

Die Untersuchung wurde im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung eines Mo­dellversuchs durchgeführt, in dem, in ei­nem abgestuften Versorgungssystem, nur eine kleine Minderheit sprachgestörter Kinder in drei Sonderschulen ange­schlossenen Sprachheilgruppen betreut wird, während die überwiegende Mehr­zahl in Regelkindergärten via Frühförde­rung von Sprachheillehrern und Heil­pädagogischen Unterrichtshilfen spezi­

FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990