Alois Bürli*
Die UNESCO setzt sonderpädagogische Aspekte
tungen gehen langsam zurück; Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen werden zunehmend dem allgemeinen Erziehungssystem zugewiesen, welches immer mehr allen Kindern gerecht zu werden versucht.
Als Lücken lassen sich feststellen, daß die Vorschulerziehung behinderter Kinder fast oder gänzlich inexistent und die nachschulische Erziehung relativ bescheiden ausgebaut ist. Einige Kategorien von Behinderten sind nach wie vor von der Bildung ausgeschlossen, vor allem Personen mit schweren und komplexen Behinderungen. Die Eltern spielen in der Praxis noch immer eine bescheidene Rolle im Bildungsprozeß ihrer behinderten Kinder. In verschiedenen Ländern besteht das Bedürfnis, Informationen über verschiedene Aspekte und Erfahrungen im Bereich der Sonderpädagogik auszutauschen.
Hindernis sonderpädagogischer Verbesserungen ist oft die Unbeweglichkeit gesetzlicher Grundlagen und administrativer Verfahren, die schwerfällig sind und die Verwendung der Mittel nach Behinderungsart vorsehen, was oft den konkreten Bedürfnissen der Betroffenen nicht entspricht. In gewissen Ländern herrscht weiterhin die Auffassung von Sonderpädagogik als einem karitativen Unternehmen, einem Sozialhilfeprogramm unter Ausschluß der Bildungsverantwortlichen. Vielerorts wird an der administrativen und fachlichen Unterscheidung zwischen den zwei getrennten Bildungssystemen„Sonderpädagogik‘‘ und „allgemeine Erziehung‘‘ festgehalten.
Gesetzgebung
Es ist auffallend und bemerkenswert, wie viele Gesetze zur Sonderpädagogik in den verschiedenen Ländern erlassen wurden oder noch erlassen werden sollen. Meistens wird der Gesetzgeber dazu durch zwei Beweggründe motiviert: einerseits angesichts der Spannweite der Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern, anderseits im Hinblick auf die Sicherstellung der sonderpädagogischen Angebote durch die ent
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sprechenden gesetzlichen Erlasse. Diese gesetzgeberische Aktivitäten haben offensichtliche Vorteile, sie halten z.B. das Recht auf Chancengleichheit und angemessenen Unterricht fest; sie garantieren die Finanzierung und geben den sonderpädagogischen Einrichtungen einen offiziellen und gesicherten Status. Dieser legislative Aktivismus birgt insbesondere zwei Gefahren in sich, nämlich vom tatsächlichen Bereitstellen der nötigen sonderpädagogischen Angebote abzulenken und zur Annahme zu verleiten, daß durch den Erlaß von Gesetzestexten automatisch die entsprechenden Dienstleistungen sichergestellt werden. Gesetzliche Grundlagen können aber auch schädlich sein, wenn sie z.B. auf überholten Vorstellungen und inadäquaten Modellen basieren.
Sonderpädagogische Gesetzgebungen haben in gewissen Ländern zu einem Schritt nach vorne geführt. Durch geeignete Gesetzesgrundlagen können Hilfen und Mittel erreicht oder die Mentalität in der Bevölkerung beeinflußt werden. Gesetze können auch die sonderpädagogischen Angebote denen gegenüber, die sie brauchen, legitimieren. Die Personen, die bei der Ausarbeitung von Gesetzen beteiligt sind, müßten hinreichend über die Entwicklungen auf diesem Gebiet, die aktuellen Tendenzen und Konzeptionen sowie die möglichen Formen sonderpädagogischer Angebote informiert sein. Auch behinderte Personen sollten beigezogen werden, damit ihre allgemeinen und besonderen Bedürfnisse berücksichtigt sind.
Integration
Auf der ganzen Welt steht die Integration im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es um die Organisation der Sonderpädagogik geht. Die Bedeutung, die ihr im Hinblick auf Chancengleichheit und Nicht-Aussonderung zugemessen wird, ist sehr zu begrüßen. Dennoch sind einige warnende Bemerkungen am Platz: Erstens ist die Integration ein dermaßen offensichtlich positives Postulat, daß sie sich sehr gut als Slogan oder leere
Phrase eignet. Es ist auch zu simpel, die Integration in die Regelschule als gut und die Sonderschulung als schlecht hinzustellen. Solche und ähnliche Vereinfachungen schaden dem Konzept der Integration. Zum zweiten bedeutet Integration nicht in allen nationalen Schulsystemen das gleiche. Das Wort Integration ist eine Kurzformel für einen langen, umfassenden und dynamischen Prozeß der Schulreform und für das Bereitstellen adäquater pädagogischer Angebote für alle Kinder. Die verschiedenen Länder sind in diesem Prozeß offensichtlich unterschiedlich weit fortgeschritten. In der Tat sind aber jene Länder selten, in denen die Integration als Prozeß der allgemeinen Schulreform verstanden wird. Meistens wird sie als ein Problem gesehen, das eine bestimmte Gruppe von Schülern betrifft, die anders sind und deshalb oft segregiert werden. Integration ist dann vor allem wirkungsvoll, wenn die allgemeine Schule in Frage gestellt wird. Integration im Sinne von Schulreform setzt sich zum Ziel, eine Schule für alle zu schaffen, die mit ihren differenzierten Angeboten den unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung trägt.
Terminologie der Behinderung
Mehr als die Hälfte der Länder unterscheiden in ihren Gesetzgebungen verschiedene Behinderungskategorien. Wiederum die Hälfte davon verwenden die sieben großen Kategorien: Verhaltensstörungen, geistige Behinderung, Körperbehinderung, Sehbehinderung, Hörbehinderung, Sprachstörungen und Lernbehinderung. Gewisse Kategorien sind allerdings rechtlich nicht festgelegt, insbesondere die Lernbehinderung, aber auch die Verhaltensstörungen und die Sprachstörungen. Hör- und Sehbehinderungen fehlen jedoch nie. In den 29 Ländern, in welchen eine formelle Umschreibung von Behinderung fehlt, ist entweder das sonderpädagogische Angebot schlecht ausgebaut oder es wurde in wenigen Ausnahmefällen bewußt auf eine Umschreibung verzichtet.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990