Alois Bürli*
Die UNESCO setzt sonderpädagogische Aspekte
Es mag ziemlich beunruhigend sein, daß sich die Sonderpädagogik in den meisten Ländern noch auf eine Terminologie von Behinderung bezieht, die im Grunde genommen überholt und kontraproduktiv ist: Sie ist negativistisch und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeiten statt auf die Fähigkeiten; sie betont die Unterschiede zwischen den behinderten und nichtbehinderten Kindern; sie basiert auf einem irreführenden Modell von Lernstörungen, als ob diese ausschließlich individuumsabhängig wären und mit Umweltfaktoren nichts zu tun hätten; vor allem aber verleitet sie zur pädagogischen Strategie, daß nämlich die traditionellen Behinderungskategorien die Organisation und Struktur des pädagogischen Angebotes fälschlicherweise zu stark bestimmen. Das Aufgeben dieser veralteten Terminologie geht nicht ohne Änderung des Blickwinkels und der Einstellung: eine echte Respektierung des Individuums, die Vermeidung von unnötigen negativen Zuschreibungen, die Berücksichtigung der erzieherischen Bedürfnisse, der Respekt vor der Einmaligkeit des menschlichen Wesens.
Planung, Organisation und Verwaltung
Sonderpädagogik kann nicht isoliert entwickelt werden. Die Programme und Angebote auf diesem Gebiet sind nur wirksan;, wenn sie eine natürliche Ergänzung des erzieherischen und kulturellen Systems des betreffenden Landes sind. Die Mittel und Angebote können sehr stark variieren und müssen den kulturellen Kontext berücksichtigen. Die sozialen und kulturellen Werte, die Einstellungen gegenüber Behinderten, die Traditionen des Umgangs mit den Bedürfnissen der Behinderten, dies alles sind wichtige Aspekte, die es bei Unternehmungen auf diesem Gebiet zu berücksichtigen gilt. Die konkreten Modalitäten sonderpädagogischer Angebote sind aber auch abhängig vom geographischen Rahmen, von den administrativen Infrastrukturen, der Art des allgemei
nen Bildungswesens, der Größe der Klassen, der Ausbildung und Kompetenz des Personals.
Trotz der großen Fortschritte auf sonderpädagogischem Gebiet ist das Fehlen nationaler Planungen beunruhigend. Angesichts knapper werdender Ressourcen sollten die nötigen organisatorischen und administrativen Strukturen festgelegt werden, um ein qualitatives und effizientes Angebot sicherzustellen. Auch wenn die Innovationsmechanismen in jedem Land verschieden sind, ist bei nationalen Entwicklungsplänen der Einbezug der höchsten Erziehungsverantwortlichen wichtig und für den Erfolg entscheidend. Da die Ressourcen vermutlich nicht ausreichen, um alle Verbesserungen gleichzeitig einzuführen, müssen konkrete Ziele festgelegt und Prioritäten gesetzt werden.
Strategien
Welche Strategien und Aktionsweisen müssen angewandt werden, um eine möglichst große Anzahl behinderter Personen und Familien zu erreichen?
Die UNESCO-Umfrage hat zwei wichtige Chrakteristika an den Tag gebracht: In zwei Dritteln der Länder liegt der Erfassungsgrad behinderter Kinder unter einem Prozent; ferner sind die Sondereinrichtungen noch bei weitem das häufigste sonderpädagogische Angebot, gefolgt von Spezialklassen in allgemeinen Schulen. Um künftig mehr behinderte Personen sonderpädagogisch erfassen zu können, sollte nicht nur das Prinzip der Normalisierung und der Integration angewandt werden, es sollten gleichzeitig auch Sondereinrichtungen bereitgestellt werden. Diese beiden Strategien müssen sich, weltweit angewandt, ergänzen. Die Bildungsbedürfnisse der meisten behinderten Personen können aber wahrscheinlich nicht durch Sonderschulen und sonderpädagogische Zentren allein befriedigt werden. Sonderschulen sollten in der heutigen Zeit als Spezialzentren zur Unterstützung externer Programme, der Fortbildung der Regelschullehrer, als
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 1, 1990
nebenschulische Stützdienste für Familien und behinderte Kinder und schließlich dem pädagogischen Stützunterricht für behinderte Kinder an Regelschulen dienen.
In einigen Ländern hat sich die Bildung von Schulzentren als nützlich erwiesen, um alle sonderpädagogisch unentbehrlichen Hilfsmittel zur Verfügung zu halten. Das spezialisierte Fachpersonal (Schulberater, Schulpsychologe, Sonderschullehrer) kann auf diese Weise effizienter seine Arbeit leisten. Frühmaßnahmen sind ein anderes wichtiges Gebiet, dem ein höherer Stellenwert zukommen muß. Die Auswirkungen einer Behinderung sind oft schwerwiegender als die direkten Folgen einer Schädigung.
Nach dem Prinzip„Bildung für alle“ müssen in erster Linie die allgemeinen Erziehungsstrukturen den behinderten Personen zugänglich gemacht werden. Die Unterrichtsweise, das didaktische Material und die Schulgebäude sollen den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder Rechnung tragen. Sonderpädagogik soll individualisiert und lokal angesiedelt sein sowie zu einer produktiven Arbeit führen.
Technologien
Die technologischen Hilfsmittel, die in der Sonderpädagogik angewandt werden können, sind ziemlich fortgeschritten und umfassen vor allem Prothesen, Mittel zur Kompensation funktioneller Defizite, Lern-, Kommunikations- und Informationshilfen. Diese Technologien spielen eine zunehmend wichtige Rolle in unserer Gesellschaft und in der Sonderpädagogik im besonderen. Es ist wichtig, daß sich die Mitgliedländer bewußt werden, damit den behinderten Menschen helfen zu können, brauchbare Kenntnisse zu erwerben und ein autonomes Leben zu führen. Die neuen Technologien können mithelfen, daß mehr behinderte Kinder den Zugang zur Schulbildung finden und darin bessere Resultate erreichen.
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