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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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anfallskranker Kinder

Von Andreas Möckel

Der Autor untersucht die Frage, warum die Erzie­hung anfallskranker Kinder in der Heilpädagogik und in der Pädagogik eine geringe Beachtung gefun­den hat. Er geht von dem BegriffParadigma von Thomas S. Kuhn aus und versucht mit Hilfe von acht Merkmalen eines heilpädagogischen Paradigmas eine Antwort zu geben,

Zur Geschichte der Erziehung

The author investigates reasons why the problems of epileptic children have attracted so little attention in education and special education. He takes up the termParadigma as used by Thomas S. Kuhn and tries to provide an answer using eight characteristics of a Paradigma for special education.

Einleitung

In der Bundesrepublik Deutschland lei­den etwa 340.000 Menschen an chroni­schen Epilepsien, darunter etwa 15.000 unter sechzehn Jahren(Sohns 1982, S. 330). Die medizinische Literatur zur Epi­lepsie ist ausgedehnt. In vielen Veröf­fentlichungen wird darauf hingewiesen, daß die sozialen Probleme der Familien und der anfallskranken Kinder selbst ei­nen großen Teil der Gesamtproblematik ausmachen.Wie jede chronische Krank­heit, so beeinflußt auch die Epilepsie sehr wesentlich den sozialen Bereich des Patienten. Fragen der Erziehung, der Be­schulung, der Berufswahl, Fragen, die Heirat, Eugenik und Schwangerschaft betreffen, Fragen der gesetzlichen Be­stimmungen und Hilfen oft stehen sie im Mittelpunkt der Beratung, und nicht selten tritt in der ‚Anfallssprechstunde* die eigentliche Krankheit Epilepsie in den Hintergrund vor den Problemen aus beruflichem oder familiärem Bereich (Schneble, 1984, S. 638/9). Die an den Universitäten etablierte Pädagogik hat sich kaum mit den sozialen Implikatio­nen der Epilepsie in der Familien- und in der Schulerziehung beschäftigt. Selbst im Handbuch der Sonderpädagogik, von dem seit 1976 schon elf Bände erschienen

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sind, werden die Aufgaben der Erzie­hung epileptischer Kinder geradezu stief­mütterlich behandelt. Das überrascht in­sofern, als zu Beginn der öffentlichen Erziehung anfallskranker Kinder in Hei­men die Lehrer eine bemerkenswerte Rolle spielten. Daß nach diesen Anfän­gen in den nächsten Generationen von Erziehern die Pädagogik an Bedeutung verlor, hängt vermutlich unter anderem damit zusammen, daß die wissenschaftli­che Pädagogik in den vergangenen Jahr­zehnten ganz allgemein der Familiener­ziehung keine große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Auch die Rettungshaus­bewegung hat nach den aufsehenerre­genden Anfängen im vergangenen Jahr­hundert keine Beachtung und Bearbei­tung an den Universitäten gefunden. Dies wiederum ist verstärkt worden da­durch, daß die Erziehungswissenschaft sich seit dem Ersten Weltkrieg schwer­punktmäßig Fragen der Schule und der Schulreform zugewandt und die psychi­schen und sozialen Folgen von Krank­heiten und damit auch den damit zu­sammenhängenden Bereich der Erzie­hungsberatung weitgehend der Medizin oder der Psychologie überlassen hat.

Die Behindertenpädagogik unterschei­det ausdrücklich zwischen Krankheit und Behinderung. Nun ist eine chronische Krankheit in einem weiten Sinne gewiß

auch eine Beeinträchtigung oder Behin­derung der Erziehung. Krankheiten kön­nen Ursachen von Behinderungen sein und sind insofern Bedingungen der Er­ziehung. Mit Epilepsien sind außerdem zum Beispiel oft Lernbehinderungen oder geistige Behinderungen verbunden. Zu den verschiedenen, in Spezialberu­fen und Institutionen auskristallisierten Formen der Heilpädagogik gibt es eine umfangreiche Fachliteratur. Bei Epilep­sien scheint aus der Sicht sowohl der Pädagogen als auch der Heilpädagogen die Krankheit zu überwiegen. Daher scheint es zu kommen, wenn in einigen Bänden des Handbuchs der Sonderpäd­agogik im StichwortverzeichnisEpilep­sie oderAnfallskrankheiten fehlen oder, wenn vorhanden, auf Beiträge von Medizinern verwiesen wird. Da wissen­schaftliche Heilpädagogik weitgehend getrennt von der allgemeinen Pädagogik und mit dem Schwerpunkt in der Aus­bildung der Sonderschullehrer betrie­ben wird, werden erzieherische Fragen anfallskranker, schulpflichtiger Kinder in allgemeinen Lehrbüchern und Lexika der Erziehungswissenschaft noch seltener aufgegriffen. Ich führe diese Tatsache darauf zurück, daß im Paradigma der Heilpädagogik und erst recht in dem der allgemeinen Pädagogik Epilepsie nicht leicht zu fassen ist.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990