Andreas Möckel+
Zur Geschichte der Erziehung anfallskranker Kinder
Der Begriff ‚„‚Paradigma‘‘ von Thomas S. Kuhn
Thomas S. Kuhn hat den Begriff„Paradigma‘“ in zwei Bedeutungen gebraucht (Kuhn, 1979). Er versteht darunter einmal ein„disziplinäres System“, das verschiedene Elemente umfaßt. Kuhn nennt vier solcher Elemente: symbolische Verallgemeinerungen, Modelle, Werte, Musterbeispiele. Insofern die Pädagogik als eine wissenschaftliche Disziplin auftritt, müssen sich diese Elemente auch auf die Pädagogik beziehen lassen.
Symbolische Verallgemeinerungen
Sie zeichnen sich dadurch aus, daß die Gruppenmitglieder einer Wissenschaft diese symbolischen Verallgemeinerungen problemlos gebrauchen. In der Pädagogik und in der Heilpädagogik sind diese symbolischen Verallgemeinerungen nicht mathematisiert wie in den Naturwissenschaften, aber trotzdem wirksam. Alle Pädagogen gehen zum Beispiel davon aus, daß die Selbständigkeit der Kinder und Jugendlichen mit zunehmendem Alter größer werden soll. Alle gehen davon aus, daß Anregungen in der Erziehung unerläßlich und Erziehung mit Entwicklung nicht gleichgesetzt werden darf. Alle unterstellen ein Zusammenspiel von Anlagen und von Umwelteinwirkungen.
Modelle
Nach Kuhn binden sich Wissenschaftler einer Gruppe einer bestimmten Disziplin an Modelle, in die sie vertrauen. In der Heilpädagogik gehört zu diesen Modellen„Schulunterricht“ oder„Beratung“, wobei diese Modelle ganz unterschiedlich beschaffen sein können.
Werte
Zu den Werten, auf welchen die Disziplin der Erziehungswissenschaft beruht, gehört die Würde jedes Menschen, auch jedes behinderten Kindes, auch wenn seine Beteiligung am sozialen Leben
gering ist. Ferner berufen sich alle Erziehungswissenschaftler auf den Wert menschlicher Solidarität zwischen den Generationen.
Musterbeispiele
Für diese Musterbeispiele gebraucht Kuhn den Begriff„Paradigma“ in einem zweiten, engeren Sinn.„Wissenschaftler lösen Probleme dadurch, daß sie sie auf die Form früherer Problemlösungen bringen und dabei oft nur in ganz geringem Maße auf symbolische Verallgemeinerungen zurückgehen“(Kuhn, 1979, S.201). Kuhn nimmt die Beispiele zur Erläuterung des Begriffs aus den Naturwissenschaften. Ich bin mir bewußt, daß sich der Begriff des Paradigmas nur mit Einschränkungen auf die Pädagogik übertragen läßt. Trotzdem scheint er mir hilfreich zu sein, weil er einen Aspekt auch der Pädagogik besonders scharf hervortreten läßt. Kuhn zeigt, wie Naturwissenschaftler aufeinander aufbauten, indem die Nachfolger Problembeschreibungen, die sie vorfanden, dazu benutzten, um ihre eigenen, neuen Probleme zu beschreiben. Einer lernte vom andern. „Dieses Lernen geht nicht mit ausschließlich verbalen Mitteln vor sich, sondern im Zusammenspiel von gegebenen Formulierungen und konkreten Beispielen für ihren Gebrauch; Natur und Worte werden gemeinsam gelernt. Um es mit Michael Polanys hilfreicher Formulierung zu sagen: das Ergebnis dieses Prozesses ist ‚stillschweigendes: Wissen‘, das durch wissenschaftliche Betätigung und nicht durch Aneignung von Regeln dafür erworben wird“(S.203). In den mathematisierten Naturwissenschaften werden Musterbeispiele im Sinne Kuhns (Paradigmata) anders reflektiert als in den Sozialwissenschaften. Die Experimente der Pädagogik haben die Dimension von neuen Institutionen und die Dauer oft von vielen Jahren,„Der Rückstand der pädagogischen Experimente sind die Fehler des Zöglings im Mannesalter. Der Zeitraum für ein einziges dieser Experimente ist also aufs wenigste ein halbes Menschenleben!“(Herbart, 1806, S. 338). Das ‚stillschweigende‘ praktische
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990
Wissen in der Heilpädagogik geht aus einer Verbindung von beispielhaften Institutionen und begründender Reflexion hervor, aus der Schulbildung im doppelten Sinne. Der Zusammenhang zwischen Vorgängern und Nachfolgern ist hierbei wenig beachtet worden und gibt sich auf den ersten Blick nicht immer zu erkennen. Man muß hierbei bedenken, daß die heilpädagogischen Institutionen meistens nicht durch die Universitätspädagogik angeregt und begründet worden sind, sondern von Menschen aus ganz Vverschiedenen Berufen. Daraus ergibt sich ein merkwürdiger Widerspruch, Gerade pädagogische Innovationen, und darum handelt es sich in der Geschichte der Heilpädagogik, sind weder ein Monopol der Pädagogen noch der pädagogischen Wissenschaft. Das Paradigma der Heilpädagogik ist nicht nur von Pädagogen angewandt worden. Es hat den Rahmen der universitären Pädagogik immer wieder gesprengt. Eines der eindrucksvollsten Beispiele ist die Erziehungslehre Maria Montessoris, die besonders von der Universitätspädagogik in Deutschland mit großen Vorbehalten aufgenommen worden ist. Mit„Paradigma*‘ sind keine konkurrierenden Konzepte oder Beschreibungsaspekte verschiedener Wissenschaften gemeint. Leider wird der Begriff von Kuhn in der Sonderpädagogik auch in diesem Sinn gebraucht. Er verliert dadurch an Schärfe und wird überflüssig. Er"könnte dann durch„Aspekt“ oder„Konzept“ ohne Verlust für den Erkenntnisgewinn ersetzt werden. Wird der Begriff jedoch in dem Sinne gebraucht, daß ein neues Paradigma das alte ausschließt, also eine„‚wissenschaftliche Revolution“ bewirkt, dann wirft er Licht auf eine Diskussionsebene, in der es um Prämissen geht, und„in ihr bedient man sich der Überredung als Vorspiel zur Möglichkeit des Beweises“(S. 210). Welches ist das Paradigma, mit dem wir es in der Heilpädagogik zu tun haben? Gibt esein solches„Musterbeispiel“‘, wie Kuhn es nennt, ein„Exempel‘“, auf das mit mehr oder weniger starken Abänderungen alle sonderpädagogischen Fachrichtungen zurückgehen? Und wie erklärt es sich, daß Erziehungsfragen anfallskranker Kinder von Pädagogen
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