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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Andreas Möckel+

Zur Geschichte der Erziehung anfallskranker Kinder

und Heilpädagogik wenig thematisiert worden sind? Liegt es an diesem Para­digma oder gerade daran, daß es sich noch nicht genügend durchgesetzt hat?

Das Paradigma der Heilpädagogik

Das maßgebliche Paradigma in der Heil­pädagogik geht auf die Erziehung der ge­hörlosen Kinder zurück. Soweit das in einem Aufsatz geschehen kann, will ich zusammenfassend darstellen, worin die­ses Paradigma besteht(vgl. auch Möckel 1988), um Kategorien zur Einordnung der Geschichte öffentlicher Erziehung anfallskranker Kinder zu gewinnen.

Vier Merkmale heilpädagogischer Verfahren

Eine neue Methode in der Erziehung von Kindern

Der Kern jeder heilpädagogischen Fach­richtung ist eine wirkungsvolle neue Un­terrichts- oder Erziehungsmethode. Es spielt hierbei keine Rolle, ob sie von Pädagogen oder von Angehörigen ande­rer Berufe eingeführt werden. Die neuen Ansätze heilpädagogischer Erziehung konnten vom fehlenden oder völlig un­zureichenden Unterricht oder von eben­so unzureichender oder fehlender Fami­lienerziehung ausgehen. Die Betonung liegt aufneu; denn es gehört zu den Kennzeichen heilpädagogischer Anfänge, daß sie dort einsetzen, wo alte Wege der Erziehung oder des Unterrichts sich mit schwerwiegenden Folgen als untauglich erwiesen und anschließend zum Ver­zicht auf Erziehung geführt hatten. Mit schwerwiegenden Folgen sind existenz­bedrohende Konsequenzen pädagogi­scher Vernachlässigung gemeint.Neu heißt daher nicht eine neuartige, Ver­besserte Erziehung oder ein verbesserter Unterricht gegenüber vorher, sondern ein erster Unterricht oder eine erste Er­ziehung im Leben von Kindern mit ganz bestimmten Behinderungen überhaupt. Beispiele, an denen das Neue der Erzie­

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hungsmethode deutlich wird: Statt Ver­nachlässigung und Verwahrlosung, die als naturgegeben hingenommen wurde, Sprachanbildung für gehörlose Kinder über das Auge und mit Hilfe des Ab­tastens; große Buchstaben in Profil­druck, später Braille-Schrift und Tasten für blinde Kinder; Zerlegen der Lern­schritte und des Lernstoffes in kleine, aber sinnvolle Teilaufgaben für geistig behinderte Kinder; Erziehung und Be­rufsausbildung mit der Aussicht auf eine Lebensperspektive in familienähnlichen Heimen statt gerichtlicher Bestrafung von jugendlichen Straftätern.

Wenn für drogenabhängige oder alko­holabhängige Jugendliche im Unterricht oder in der Erziehung ein Zugang zur Bewältigung ihrer speziellen Probleme gefunden werden kann, erweitert sich der Bereich der Pädagogik durch Heil­pädagogik. Es ist hierbei ohne Belang, wer diesen Zugang findet und ob er För­derung oder Therapie genannt wird.

Überwindung von anthropologisch­pädagogischen Vorurteilen

Mit Hilfe der neuen Methoden wurden die Möglichkeiten des Lernens und der Erziehung jeweils auf einen neuen Kreis von Kindern ausgedehnt, bei denen die sonst üblichen Verfahren von Erziehung und Unterricht nichts ausrichten konn­ten. Fragt man, wieso das vorher nicht schon möglich war, stößt man immer auf Vorurteile oder andere Wissensbar­rieren, die erst überwunden werden mußten. Es ist richtig: Heilerziehung ist Erziehung und heilpädagogischer Unter­richt ist Unterricht. Und doch blieben gehörlose, blinde, verwahrloste, geistig behinderte Kinder Jahrhunderte lang den Familienangehörigen oder der Justiz oder Asylen zur Aufbewahrung überlas­sen. Taubstumme Kinder galten bis in das 18. Jahrhundert als stumm geboren. Erst als erkannt wurde, daß die Stumm­heit sogenannter taubstummer Kinder die Folge der Gehörlosigkeit ist, konnte unter Umgehung des Gehörschadens Kin­dern das Sprechen und Lesen gezeigt werden. Heilpädagogische Verfahren setz­ten dort an, wo fälschlich Bildungsunfä­

higkeit oder Erziehungsunfähigkeit an­genommen worden war.

Erkennen der Ansprechbarkeit

Diese Überwindung der pädagogischen Vorurteile hatte einen positiven Aspekt. Das Neue der heilpädagogischen Metho­den lag in einem neuen Verständigungs­schlüssel. Kinder sprachen auf Unterricht und Erziehung, auch wenn diese nicht nach neuen, sondern nach längst beste­henden Grundsätzen angewandt wur­den, zum ersten Mal an. Die Stelle, an der behinderte Kinder leiblich, seelisch und geistig erreicht wurden, kann als be­sonderer, spezifischer Bereich unbeschä­digter Bildsamkeit oder Aufnahmefähig­keit oder Hörbereitschaft bezeichnet werden. Von diesem Bereich aus rege­nerierte sich das Ganze. Dieser Bereich mußte erkannt, das Empfangsorgan für Unterricht und Erziehung mußte gefun­den, die Sprache der Erziehung und des Unterrichts diesem Bereich angepaßt werden. Die Spezialisierung von Lehrern und Erziehern auf diese besonderen Bereiche machte sie zu Heilerziehern.

Diagnostik

Ansprechbarkeit von Kindern hat zwei Bedingungen. Einerseits müssen Ansatz­punkte, Bereiche unbeschädigter Bild­samkeit, für das Ansprechen gefunden werden. Andererseits müssen Lehrerin­nen und Erzieherinnen erkennen, inwie­fern sie sich unbedingt anders zu verhal­ten haben als bei anderen Kindern und inwiefern gerade nicht. Sie müssen er­kennen, welche sonst üblichen Bildsam­keitsbereiche sie ansprechen können und welche nicht. Heilpädagogik muß daher auch eine pädagogische Diagnostik entwickeln und hat sie entwickelt. In der Schwerhörigen- und in der Sehbe­hindertenpädagogik haben ärztliche Un­tersuchungen einen bedeutenden Anteil. Lehrerinnen und Lehrer müssen in der Lage sein, die vorhandenen Ansatz­punkte zu nutzen. Das Eigentümliche der Heilpädagogik besteht darin, daß die

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990