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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Andreas Möckel ­

Zur Geschichte der Erziehung anfallskranker Kinder

neuen Erziehungs- und Unterrichtsme­thoden und die spezifischen Bereiche unbeschädigter Bildsamkeit sich entspre­chen und miteinander gefunden und kultiviert werden müssen.

Auswirkungen heilpädagogischer Methoden

Was heilpädagogische Methoden sind, läßt sich in der Geschichte bis zu einem gewissen Grad an den Auswirkungen feststellen. j

Lehrbarkeit

Die neuen Methoden wirkten beispiel­haft und fanden Nachahmer, Befürwor­ter, zuweilen auch Gegner, gegen die sie durchgesetzt werden mußten, Sie konn­ten weitergegeben werden, weil ein Be­wußtsein von den Unterschieden des Zu­standes in der Erziehung und im Unter­richt vorher und danach vorhanden war.

Institutionsbildung

Es entstanden Prototypen von Schulen oder Erziehungseinrichtungen. Die neu­en Methoden fanden in den Institutio­nen ein Schutzdach, unter dem sie den Generationswechsel der Erzieher über­dauern konnten.

Lehrer- und Erzieherbildung

Die einmal gefundenen, neuen Metho­den mußten von der nächsten Genera­tion von Erziehern erlernt werden. Auf diese Weise entstanden neue Berufe von Spezialisten der Erziehung und des Un­terrichts in neuen Institutionen: Taub­stummenlehrer in Taubstummenschu­len, Blindenlehrer in Blindenschulen, Gehilfen und Diakone in Rettungshäu­sern, Hilfsschullehrer in Hilfsschulen, Erziehungsberater in Erziehungsbera­tungsstellen. Diese Berufe und Institu­tionen gibt es erst seit dem 18. bzw. 19. Jahrhundert. Der Triumph neuer Metho­

den bestand darin, daß sie nachfolgende Generationen zwang, sich die neuen Ver­fahren anzueignen. Die neuen Methoden bildeten nicht nur Schüler, sondern in einem grundlegenderen Sinn auch neue Erzieherberufe. Die neuen Erziehereigen­schaften wurden über mehrere Genera­tionen vererbt und verbessert und bilden seither einen Bestand im Erziehungs­wesen.

Emanzipation

Heilpädagogische Erziehung und heil­pädagogischer Unterricht wirkte sich langfristig dahingehend aus, daß Eltern­oder Unterstützungsvereine oder Selbst­hilfegruppen entstanden. Heilpädagogik begann mit der Fürsorge für Kinder und deren Eltern, war jedoch bewußt auf die Selbständigkeit der jungen Menschen an­gelegt. Fast alle heilpädagogischen Fach­richtungen bezogen die Berufsausbildung in ihre Konzepte nahezu von Anfang an ein. Hilfe zur Emanzipation hieß Ermög­lichung einer selbständigen Existenz, In einem weiteren Sinn ermöglichte diese berufliche Rehabilitation Zusammen­schlüsse von Menschen in der gleichen Situation. Nach einigen Jahrzehnten entstanden fast in allen heilpädagogi­schen Fachrichtungen genossenschaftli­che Vereinigungen zur Selbsthilfe. Die Behinderten oder ihre Eltern fingen an ihre Probleme selbst auszusprechen, ge­legentlich im Gegensatz zu der ihnen vorher entgegengebrachten Fürsorge.

Anfänge der Erziehung anfallskranker Kinder in Anstalten

Erziehung und Unterricht epileptischer Kinder setzte historisch gesehen bei der Familienerziehung an, nicht beim Schul­unterricht. Das entspricht bis zu einem gewissen Maße der Rettungshausbewe­gung und der Körperbehindertenpäd­agogik. Als öffentliche Erziehung be­ginnt sie in der Mitte des vorigen Jahr­hunderts. In Frankreich, in der Schweiz und in Deutschland standen am Anfang keine spezifischen Unterrichtsmethoden,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

sondern die Nöte verwaister, anfallskran­ker Jugendlicher oder die Ratlosigkeit der Familienangehörigen. Pflege und ärztliche Hilfe waren vordringlich und bestimmten die Überlegungen. Die Un­terbringung der Kinder stand im Vor­dergrund, auch wenn die Erziehung als Aufgabe gesehen wurde. Die Aufnahme anfallskranker Kinder in. Heimen der inneren Mission wurden mit der Not der Familien und ihrer Kinder begründet, nicht mit dem Mangel an Unterricht. Wo sollten sie untergebracht werden, wenn die Eltern sich nicht mehr zu hel­fen wußten oder nicht mehr lebten? Sie konnten in Irrenanstalten, in Rettungs­häuser oder in die damals gerade neu entstandenen Schulinternate für geistig behinderte Kinder aufgenommen wer­den. Die Irrenanstalten sahen die Aus­gliederung anfallskranker und geistig be­hinderter Kinder oder die Einrichtung von besonderen Abteilungen nicht als ihre Aufgabe an. Sie nahmen schwer erkrankte, epileptische Kinder auf, die meistens auch geistig behindert waren, keine Kinder und Jugendliche, die gut begabt waren und zwischen den Anfäl­len verhältnismäßig unauffällig leben und lernen konnten.

Der Arzt Albert Moll aus Tettnang be­gründete 1865 vor der Südwestdeut­schen Konferenz für Innere Mission die Notwendigkeit einer eigenen Einrich­tung für anfallskranke Kinder:Für den Epileptiker verschließen sich alle Anstal­ten, er ist verlassener als der Geistes­kranke, als der Blinde, der Taubstumme, der Kretin, denn nirgends hat er ein Asyl zu finden, das eine menschliche Idee ihm geschaffen und geöffnet hätte. Die einzigen Stellen, die ihm offen blei­ben, sind die entlegendsten Winkel eines Armen- und Tollhauses, in welchem er durch die Hartherzigkeit der Menschen all dasjenige entbehrt, worauf ein Kran­ker aus natürlichen Gründen Anspruch haben darf(zit. nach Schlaich, 1949, S.11). Bezeichnend ist, daß Moll an die Situation der Gehörlosen, Blinden und geistig Behinderten erinnert. Das Para­digma der Heilpädagogik war wirksam. Auch deren Not war groß gewesen, SO­lange sich niemand um sie gekümmert hatte. Erst als sich eine Solidargemein­

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