Andreas Möckel
schaft gebildet hatte, welche die Familien und ihre Kinder nicht allein ließ, sondern Anstalten anbot, in denen die Kinder wohnen, lernen und arbeiten konnten, waren sie gesellschaftlich präsent. Moll spricht nicht von fehlendem Unterricht, aber die Aufgabe der Erziehung und des Unterrichts lag auf der Hand. Auch das ist bezeichnend, daß der heilpädagogische Aspekt weniger bewußt war als der medizinische und der der Wohlfahrt. Heilpädagogik geht jedoch weder ganz in der Medizin noch in der Sozialhilfe auf. Die Einrichtungen für Anfallskranke sollten der Wartung in den Familien zu Hilfe kommen, der „Ordnung des Hauswesens‘“, wie Pfarrer Franz Balke vor dem Rheinisch-Westfälischen Verein für Innere Mission zu Bonn im gleichen Jahr es ausdrückte. Er fragte, ob Anstalten für Epileptiker nicht zur Schwächung der Familienerziehung beitrügen und führte Beispiele dagegen an: „Die ganze Ordnung des Hauswesens, wie die Erziehung und Pflege der Kinder, wie sie der Erwerb des Unterhaltes für die Kinder nöthig macht, ist völlig durchbrochen“(Balke, 1865, S. 5).
Die öffentliche, heilpädagogische Erziehung anfallskranker Kinder hat ähnliche Anfänge wie die Rettungshausbewegung und die Erziehung körperbehinderter Kinder. Aber es gibt auch Unterschiede, Die Rettungshausbewegung hatte es nicht mit physisch kranken Familienmitgliedern, sondern in den meisten Fällen mit zerstörten Familien zu tun. Falk, Wichern, von der Recke, Zeller und andere waren sich dessen bewußt, daß sie eine Erziehung an die Stelle fehlender Familienerziehung setzten. Wichern unterschied zwischen erfolglosen Erziehungsbemühungen und fehlender Familienerziehung. Wo die Verwahrlosung eingetreten sei,„kann nicht mehr von Ursachen erfolgloser, persönlicher Erziehungsbemühungen der Eltern die Rede sein; solch nennenswerte Bemühungen existieren im Bereich der Verwahrlosung gar nicht‘(Wichern, 1963, S. 330). Wenn es notwendig sein sollte, mußte der alte Familien-Stamm abgebrochen werden, wie er in der Rede zur Begründung des Rauhen Hauses sagte. Für Familien mit anfallskranken Kin
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Zur Geschichte der Erziehung anfallskranker Kinder
dern galt das nicht. Den Eltern anfallskranker Kinder fehlte es nicht an Einsicht in die Notwendigkeit und an gutem Willen zur Erziehung. Sie wußten sowohl ihre gesunden als auch ihre kranken Kinder zu erziehen. Es fehlte jedoch an der Kraft, ganz unterschiedliche und vielfältige Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Balke schildert die Situation im Hause eines Seidenwebers:„Die aufmerksame Liebe ist nicht im Stande, unter der Häufung der Aufgaben, dem kranken heißgeliebten Kinde den nöthigen Schutz darzureichen. Dasselbe fällt bald draußen in die Pfütze vor den so oft als möglich auf das spielende Kind hingerichteten Augen des im Zimmer von früh bis spät arbeitenden Vaters, bald an den glühenden Ofen, in siedendes Wasser in Gegenwart der die übrigen Kinder eben reinigenden und kleidenden Mutter“(Balke, 1865, S. 5).
Auch im Vergleich mit den ersten Schulen für körperbehinderte Kinder bestehen sowohl Entsprechungen als auch Unterschiede. Zur Vorgeschichte der Erziehung körperbehinderter Kinder gehören unter anderem die orthopädischen Anstalten, Sie boten neben der medizinischen Behandlung Krankenhausunterricht an, und setzten damit die Schulbildung ihrer jungen Patienten fort. Von einem Unterricht für anfallskranke Kinder in Irrenanstalten ist nichts bekannt. Die erste Einrichtung für körperbehinderte Kinder in Deutschland, in der medizinische, pädagogische und pflegerische Hilfen vereinigt waren, so daß erstmals spastisch gelähmte, schwergeschädigte Kinder in einer öffentlichen Einrichtung unterrichtet werden konnten, entstand 1885 in Nowawes, also nach der Entstehung der ersten Abteilungen für epileptische Kinder in Stetten und Bethel. Diakonissen aus Kaiserswerth fanden bei Hausbesuchen körperbehinderte Kinder, die von Schulen zurückgewiesen worden waren. Ihnen drohte Vernachlässigung, wenn beide Elternteile arbeiteten, um die Familie zu ernähren. Diese Eltern waren überfordert, jedoch nicht unfähig, ihre Kinder zu erziehen. Wie für anfallskranke Kinder mußte für sie ein Ort der Pflege geschaffen werden. Er
war eine notwendige Bedingung für den Unterricht. Das traf in dieser Weise auf anfallskranke Kinder nicht zu. Als die Anstaltsleitung in Bethel sich entschloß, ein Haus für anfallskranke Kinder einzurichten, schätzte man die Zahl der epileptischen Kinder im Rheinland und in Westfalen auf 1.000 von denen 20 Prozent aus der Schule ausgeschlossen waren (von Bodelschwingh, 1883, S. 2).
Die ersten Anstalten in Deutschland, die eigene Abteilungen für anfallskranke Kinder errichteten, waren Stetten im Remstal(1866) und Bethel(1867). Sie unterschieden sich insofern, als in Stetten geistig behinderte Kinder und anfallskranke durchschnittlich begabte Kinder die gleiche Schule besuchten, in Bethel jedoch getrennt waren. Auch in Stetten wohnten die anfallskranken Kinder jedoch mit den geistig behinderten nicht zusammen. Johannes Landenberger, der Erziehungsinspektor in Stetten, sprach von günstigen Einwirkungen der anfallskranken Kinder auf die geistig behinderten und betonte, daß die„Anstaltsschule auch für geistiggesunde epileptische Kinder alles bietet, was eine gehobene Volksschule leisten soll, daß namentlich Geometrie und Realunterricht mit gutem Erfolg gegeben wird“(Jahresbericht, 1876, S.7).
Die Situation der anfallskranken Kinder war jedoch nicht eindeutig. Es gab unter ihnen viele, die von den Schulen nicht zurückgewiesen wurden und zwischen den Anfällen unauffällige Schüler waren. Die Abteilungen in den Heimen kamen in erster Linie für anfallskranke und gleichzeitig geistig behinderte und für solche Kinder in Betracht, deren Familien mit der Erziehung überfordert waren. In einem Jahresbericht aus Stetten heißt es:„Man macht hier aus der Krankheit kein Aufsehen, betrachtet sie wie eine andere und geht zur Tagesordnung über. Die Epileptiker dagegen wirken durch ihre in der Regel bessere Begabung wohltuend ein auf ihre schwächeren Genossen. Auch der Lehrer hat eine leichtere und anregendere Arbeit, wenn sich unter seinen Schülern auch bessere befinden, welche schneller- auffassen und weiter zu bringen sind. Demgemäß haben wir in den oberen Klassen mehr
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990