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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Epileptiker und weniger Schwachsinnige, während in den unteren das Verhältnis umgekehrt ist. So befinden sich in der obersten Klasse unter 29 Schülern 19 epileptische, in der unersten unter 32 Schülern 10 epileptische(Jahresbe­richt, 1882, S. 12).

Anstalten für anfallskranke Kinder und Jugendliche und das heilpädagogische Paradigma

Geht man die oben genannten Merkmale des heilpädagogischen Paradigmas durch, ergibt sich ein bezeichnendes Bild. Die Anfänge der öffentlichen Erziehung an­fallskranker Kinder entsprechen zwar nicht vollständig, aber weitgehend den Kriterien des heilpädagogischen Paradig­mas, aber der pädagogische Ausbau über den Zeitraum von zwei oder drei Gene­rationen blieb aus. MitAusbau soll nicht der Eindruck erweckt werden, als seien die anderen Richtungen in der Heilpädagogik von einer Planungsstelle systematisch ausgebaut worden. Erst von einem späteren Zeitpunkt aus be­trachtet, wirken die Schritte in der Ge­schichte heilpädagogischer Fächer ziel­strebig. Was in der Erziehung anfalls­kranker Kinder fehlte, waren nachfol­gende Generationen von Lehrern, die über das Erreichte hinausgegangen wären.

Eine neue Methode

Lange Zeit wurde den anfallskranken Kindern ein bestimmter Charakter zu­geschrieben. Sieht man zunächst von dem Aberglauben ab, der die Epilepsie Jahrhunderte hindurch umgeben hat und sucht man nur nach den Motiven zur Einrichtung der ersten Abteilungen, dann kann man eine erstaunliche Nüch­ternheit feststellen. Zwar wurde die Not in den Familien und die Größe der Auf­gabe scharf herausgestellt. Es läßt sich auch nicht leugnen, daß den anfalls­kranken Kindern ungünstige Charakter­eigenschaften und eigentümliche Triebe zugeschrieben wurden, Die Lehre von eigentümlichen psychischen Eigenschaf­ten hat auch noch im 20. Jahrhundert

Andreas Möckel ­

eine Rolle gespielt, ohne daß immer hinreichend zwischen somatisch verur­sachtem Leiden der Kinder und dem Leid in den Familien, zwischen Krank­heitsursachen und Folgen für die Erzie­hung unterschieden worden wäre. Aber eine eigene Methode der Erziehung oder des Unterrichts ist aus dieser Lehre nicht nur nicht hervorgegangen, sondern gar nicht erst versucht worden.

Für den Bereich der Didaktik ist dies verständlich. Es gibt keine Didaktik für anfallskranke Kinder und braucht sie auch nicht zu geben. Für den Bereich der Erziehung ist das jedoch nicht selbstverständlich; denn Erziehungspro­bleme spielen in Familien, in denen anfallskranke Kinder aufwachsen, auch heute noch eine erhebliche Rolle. Die Erziehungsmethode, mit der den Fa­milien geholfen werden konnte, war entweder die Aufnahme in eine Anstalt oder Erziehungsberatung. Das klingt trivial. Wie in der Rettungshausbewe­gung und beim ersten Unterricht kör­perbehinderter Kinder bedeutete die Aufnahme in einer Anstalt für das curriculum vitae der Kinder und für die Familiengeschichte viel mehr als die vor­übergehende Aufnahme von Schülern in ein Pensionat, Der pädagogische Schritt, der vorausgehen mußte, war Beratung. Die öffentliche Erziehung anfallskranker Kinder ist auf Erziehungsberatung hin geradezu angelegt. Trotzdem ist aus der Anstaltserziehung keine pädagogische Beratungsstelle hervorgegangen. Medi­zinische und pädagogische Hilfe standen in einem umgekehrten Verhältnis wie in den ersten Anstalten für geistig behin­derte Kinder. Diese waren in vielen Fäl­len von Ärzten in der Hoffnung auf me­dizinische Heilung gegründet worden. Bald stellte sich jedoch heraus, daß me­dizinische Heilung unmöglich, pädago­gische Förderung dagegen wirkungsvoll war. Die Abteilungen für anfallskranke Kinder entstanden als Hilfe in akuten Notständen überforderter Familien. Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, daß medizinische Heilung oder Besserung aussichtsreicher war, als zunächst ange­nommen werden konnte.

Die Abteilungen für epileptische Kinder und Jugendliche in den Anstalten sind

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

Zur Geschichte der Erziehung anfallskranker Kinder

für medizinische Beobachtungen genützt worden. Über Art, Häufigkeit und Dauer der Anfälle führten die Erzieher Buch. Heute fallen die medizinischen Fort­schritte in der Behandlung der Kranken auf, nicht die pädagogischen. Besonders die medikamentöse Behandlung hat das Bild dieser Krankheit in der Öffentlich­keit verändert.Heute steht dem Epi­leptologen eine Palette von etwa zwölf Substanzgruppen zur Bekämpfung der Epilepsie zur Verfügung, mit deren Hilfe es möglich ist, etwa 60 bis 70% der Patienten von ihren Anfällen zu be­freien und bei weiteren 20% eine ent­scheidende Besserung herbeizuführen (Schneble, 1984, S. 638). Die neuen Ab­teilungen haben die medizinische For­schung begünstigt. Für die pädagogi­sche Forschung sind sie nicht genützt worden, obgleich sich ein großes Erfah­rungswissen in jeder Generation sam­melt. Die Methode der Heimerziehung hat damals vielen Familien geholfen und hilft ihnen heute noch. Die Auswegslo­sigkeit der Erziehung in vielen Familien damals wie heute ist vielfach bezeugt. Eltern anfallskranker Kinder waren in einer anderen, aber in keiner einfacheren Situation als Kinder von spastisch ge­lähmten oder emotional schwer gestör­ten Kindern.

Überwindung von anthropologisch­pädagogischen Vorurteilen

Um anfallskranke Kinder zu unterrich­ten, bedurfte es der Überwindung von Vorurteilen insofern nicht, als die hohe Intelligenz vieler Epilektiker immer be­kannt war, Viele erlitten den ersten An­fall, nachdem sie viele Jahre lang ihren Lehrern und Schulfreunden als gute Schüler bekannt gewesen waren. Die Bildungsfähigkeit epileptischer Kinder war nicht umstritten, viele von ihnen besuchten Regelschulen auch nach dem ersten schweren Anfall, kleinere Anfälle und Absencen blieben vermutlich in vie­len Fällen unbeachtet oder wurden un­ter Unaufmerksamkeit eingeordnet und getadelt oder bestraft. Andere Vorur­teile, die um die Krankheit wucherten und anfallskranke Kinder und ihre Fa­

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