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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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sehe nicht ein, weshalb sich etwas än­dern soll. Ich werde alles tun, was ich schon immer getan habe! ‚Du bist ein mutiges Mädchen! Wirklich sehr tap­fer! erwiderte er sichtlich befriedigt. Aber ich war überhaupt nicht tapfer. Ich war gerade fünfzehn geworden, und wie man sich vorstellen kann, hatte ich von nichts eine Ahnung(Cooke, 1987, S. 9/10). Solche und ähnliche Gesprä­che nach einem ersten Großen Anfall, wie das von Sue mit dem Schuldirektor, sind Neuanfänge in der Erziehung an­fallskranker Kinder.

Lehrbarkeit

In Stetten i.R. und in Bethel waren Leh­rer an der Einrichtung von Abteilungen für anfallskranke Kinder beteiligt und erwarben sich Spezialkenntnisse. Der Nachfolger Johannes Landenbergers in Stetten, Friedrich Kölle, wurde 1884 Leiter der Schweizerischen Anstalt für Epileptische in Zürich. Die Spezial­kenntnisse betrafen aber keine für die Erziehung anfallskranker Kinder speziell wirksame Methode. Die ersten Lehrer in Stetten, Bethel und Zürich erzogen und unterrichteten im Geiste des Neupietis­mus, Ihr Wissen bestand in einem gro­ßen Erfahrungsschatz, der unter ande­rem aus dem Umgang mit epileptischen Kindern, Eltern und Ärzten erwachsen war. Vielleicht waren diese Erfahrungen zu komplex, als daß sie hätten in eine Lehre gebracht werden können. Viel­leicht bestand die Schwierigkeit für den Neupietismus in besonderer Weise. Leh­rer, die sich im vorigen Jahrhundert in den Dienst der Inneren Mission stellten, erlebten Schule und Heim im Medium einer biblisch geprägten Sprache. Er­ziehungserfahrungen waren Glaubens­erfahrungen. Man muß sich jedoch da­vor hüten, deswegen, weil spezifische Erziehungserfahrungen nicht tradiert worden sind, anzunehmen, es habe sie nicht gegeben. Es scheint mir für die Geschichte der öffentlichen Erziehung anfallskranker Kinder besonders kenn­zeichnend, daß die bedeutenden, aus dem Geist des schwäbischen Pietismus unterrichtenden Lehrer, Landenberger

Andreas Möckel+

(Stetten), Kölle(Zürich), Unsöld(Be­thel), keine Typenbeschreibung mit ei­nem negativen Merkmalskatalog anfalls­kranker Kinder hinterlassen haben, so wie das um die Jahrhundertwende zum Beispiel Caesare Lombroso und seine Nachfolger taten(Lamprecht, 1990, S.72/73). So viel die Pädagogen damals von den Ärzten lernten, sie waren nicht bloß einseitig abhängig.Daß Epilepti­sche, wie so manche psychiatrische Lehr­bücher behaupten, vor andern krank­hafte religiöse Neigungen haben, konnte der Verfasser bei epileptischen Kindern nicht in höherem Grade als bei andern finden, nicht einmal bei seinen Erwach­senen(Kölle, 1904, S. 479). Es ist zu bedauern, daß es keinen regelmäßigen, in­stitutionalisierten Erfahrungsaustausch von Lehrern zu Fragen der Erziehung anfallskranker Kinder gibt.

Institution

Die Abteilungen in Stetten und Bethel und an anderen Orten lassen sich mit Krankenhausschulen vergleichen, in de­nen der medizinische Zweck der Heilung im Vordergrund stand und der Unter­richt sich an die Gegebenheiten anpaßte. Man kann nicht sagen, daß die Institu­tionen zur Tradierung eines bestimmten pädagogischen Konzeptes notwendig waren. Die Abteilungen für Anfallskran­ke Kinder hatten von Anfang an die Funktion von speziellen Abteilungen für chronisch erkrankte Kinder und Jugendliche,

Lehrerbildung

Lehrer für anfallskranke Kinder bildeten keinen neuen Lehrerstand und kämpften auch nicht wie Lehrer anderer Einrich­tungen um eine eigene Ausbildung. Auch das muß bedauert werden. Sie blieben im Schatten der Einrichtungen für geistig behinderte Kinder und im Schatten der Medizin. Es entstand keine eigene, von Lehrern in Anstalten für anfallskranke Kinder getragene pädagogische Zeit­schrift. Wie in der Erziehung körperbehin­derter Kinder und in der Rettungshausbe­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

Zur Geschichte der Erziehung anfallskranker Kinder

wegung zielte die Arbeit mit anfallskran­ken Kindern auf einen Erzieher mit ei­nem andern Profil als bei Lehrern. Im Lehrerberuf war die sorgfältige und ge­diegene Schulbildung der Kern, um den sich die Lehrer bemühten. Das gilt weit­gehend auch für die Gehörlosen- und Blindenschulen, für Hilfsschulen und Sprachheilschulen. In Schulen für an­fallskranke Kinder war der neue und mit der Institution im Entstehen begriffene Beruf auch ein Erzieher- und Beraterbe­ruf, der jedoch in dieser Richtung wenig ausgebildet worden ist.

Emanzipation

Die Anfallskranken haben, soweit ich sehen kann, nicht über die Anstalten und Schulen zu Selbsthilfeorganisatio­nen gefunden, Wenn die schulentlassenen Jugendlichen im Berufsleben mit schwe­ren Anfällen rechnen mußten, blieben sie in Anstalten und übten dort einen Beruf aus oder gingen einer Arbeit nach, Erst nach dem zweiten Weltkrieg sind Selbsthilfegruppen von Anfallskranken hervorgetreten.Die erste Selbsthilfe­gruppe in der Bundesrepublik wurde 1971 im Rahmen der Lebenshilfe e.V. in Hamburg gegründet(Köhler/Thor­becke, 1988, S. 50). Vielleicht gehen von der Gründung von Selbsthilfegrup­pen neue Impulse auf die Erziehung aus. Die Frage der Integration kann von an­fallskranken Erwachsenen unbefangen durchdacht werden. Für anfallskranke Kinder müssen unterschiedliche Insti­tutionen zur Verfügung stehen, damit Abstufungen der Behinderung von Er­ziehung durch die Krankheit berück­sichtigt werden können,

‚Aus der Geschichte der öffentlichen

Erziehung anfallskranker Kinder kann man zwei Folgerungen ziehen. Bedenkt man, daß die anfallskranken Kinder in der Nazizeit durch eine unheilige Ver­bindung von politischer Macht und na­turwissenschaftlich-medizinischer Lehre an Leib und Leben bedroht, zwangs­weise sterilisiert und ermordet worden sind und daß sich diese Tendenz schon vor 1933 abzeichnete, ohne daß aus den Reihen der Pädagogen ein Protest ge­

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