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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Erinnerungen von Bedeutung

Von Franz Mersi

In diesem Dokument berichtet der Autor von Erfah­rungen, die er als Kind während des Krieges und kurz nach dem Krieg machte, Er legt damit einen Grund frei, der sein Berufsverständnis als Hochschul­

lehrer und Heilpädagoge trägt.

Eine Luftpumpe, eine Fahrradluftpum­pe. Auf einer weißen Stirn: Tiefer Haar­ansatz, dunkles Haar. Das Rohr ist schwarz lackiert. Beim Zuschlagen ist es bis zum Kolben an der Stange entlangge­fahren. Die dritte Farbe ist rot. Schwarz­Weiß-Rot. Rot wie Blut. Weiß wie Schnee, Schwarz wie Ebenholz. Der Blick des Geschlagenen auf den Schläger begreift nichts. Der Schläger schlägt immer wei­ter zu. Rohr auf, Rohr ab, wie einer, der sich im Recht weiß. Auf den Kopf. Im­mer auf den Kopf. Das Blut rinnt und verteilt sich langsam über das bleiche Gesicht wie Mutters rote Korallenzweige. Der Schläger schreit. Er ist außer sich. Der Geschlagene blickt. Wortlos, lautlos, tonlos. Die Umstehenden rühren sich nicht, ein stummes Halbrund, mit beiden Enden am Randstein. Dahinter Baum­grün, Luisenpark. In unserem Rücken Kalksteinfassaden, graugelb, mit dunk­len, schmutzigen Regenbärten. Karyati­den, steinerne Liliengewächse, schwere, dunkle Türen. Messingschilder. Die Arzt­praxis. Im schwarzen, glatten Asphalt laufen die Schienen der Straßenbahn zwischen Basaltstreifen. Ach, Nummer 7 komm! Komm und hilf uns! Hol uns da heraus. Weg. Fort. Mein Vater rührt sich nicht. Rettet nicht. Hilft nicht. Straft nicht. Es gibt keine Gerechtigkeit. Der Schläger schlägt. Der Geschlagene blickt. Die Stehenden stehen. Wir gehen vorbei. Da kommt die 7(der falsche Zugwagen, nicht mit meiner Nummer). Wir steigen ein. Aber tatsächlich sind wir gestorben.

Tote Fahrgäste in der 7. Viel später. Der Judenhut. Ich stelle ihn mir als spitzen Judenhut vor ,,... am spitzen Hut magst Du den Parther kennen... Ein Juden­hut. In Wien vom Kopf geschlagen. Ein­fach so. Demütig wieder aufgehoben(in Wien). Aber das wäre dagegen ja noch angegangen! Du Vater hast nicht gehol­fen! Dich nicht eingemischt. Bist vorbei­gegangen. Mich hast du einfach mitgezo­gen. Sicher, der junge Mann schien ein Dieb zu sein, sich wohl am Rade des Wü­tenden zu schaffen gemacht zu haben, ist vermutlich von diesem überrascht wor­den. Man darf nun einmal nicht stehlen. Nicht einmal den Anschein erwecken. Aber Vater, Vater: das Blut! Vater: Wie der guckte. Vater: Er wehrte sich ja nicht einmal! Vater! Vater: wegen einer Luftpumpe.

Rudis Vater kann aus zwei alten eine neue machen. Und die verschenkt er dann. Der hätte da nicht zugesehen. Der hätte den gepackt. Wie ein Schraubstock. Der ist stark, Rudis Vater. Er ist Arbeiter bei Benz, nicht ein schwacher Lehrer wie du. In der Morgenpause machte ihm seine Frau frischen Goulasch. Da gibt sie uns manchmal davon ab. Damit wir auch stark werden. Stark und gerecht. Herr Bieler ist immer gerecht. Wenn Streit ist, fragt er uns. Wenn wir im Recht sind, hilft er uns. Sogar gegen die Lehrer. Sogar gegen Herrn Heinz, den Schupo. Es heißt, Herr Bieler sei Kom­munist. Aber ordentliche Leute. Jeden­falls ist er Spezialist. Nur er kann die

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

In this document the author records his experiences as a child during and immediately after the second World War. In this he reveals one of the keys to his concept of his task as teacher in university and special education.

Achsen drehen. Die brauchen ihn. Er braucht die nicht. So ist das, sagt er. Für uns aber ist er vor allem gerecht. Herr Heinz schlägt Hermann oft halb­tot, wenn er unordentlich war. Frau Heinz sagt ihm das, muß es ihm sagen, wenn er vom Dienst kommt. Sie kriegt selbst etwas ab, wenn sie dazwischen­geht. Ich habe zugesehen. Aber gegen Rudis Vater traut Herr Heinz sich nicht. Mit uns geht er sonntags nach Sankt Eli­sabeth. Die Nazis mögt ihr beide nicht. Aber Mut hat Rudis Vater. Du nicht, und Herr Heinz auch nicht, trotz seiner Dienstpistole. Und die andern, mit de­nen ihr nach der Heiligen Messe flüstert, ebenso wenig. Nur Herr Bieler. Und un­ser Hausmeister. Herr Heßlinger. Er ist Werkmeister und geht zur Kirche. Spä­ter, nach demZusammenbruch wird er einer der ersten sein, der nach Ruß­land eingeladen wird. Wegen der russi­schen Kriegsgefangenen, die er unter Lebensgefahr gerettet hat. Ingenieur Mohl vom BBC dagegen hat nie etwas von ihnen gehört. Aber er weiß, daß der Sieg nahe bevorsteht. Wegen eines neu­en Periskops, das bei ihnen entwickelt wird. Das ist alles ganz geheim. Wir Kin­der haben die Russen nachts gesehen, nach den Angriffen, vorbeigetrieben wie Vieh, Alle haben sie gesehen. Gesprochen wurde nie darüber.

Dann stehtst du plötzlich in der Stube des Bauern, Vater, an einem schönen Tag Ende Mai 1945. Ich komme vom Acker. Auf diesem Hof hat man mir Un­

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