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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz Mersi- Erinnerungen von Bedeutung

terschlupf gewährt, ungefragt, Essen, Wohnung und Kleidung gegeben. Meine Anstrengungen, ihnen den Knecht zu er­setzen, fand erste Anerkennung. Du warst ein Bündel von Haut und Knochen. In den Kleidern einer Vogelscheuche. Buchstäblich. Das Gestell trug jetzt wohl deine Volkssturmuniform. Tränen in den Bartstoppeln. Was für ein Gestank. Scham und Schuld schlagen über uns zusammen. Da heißt es schnell erwach­sen werden. Ihr habt zugesehen. Schwei­gend wie meist. Euer einziger Sohn im Hergottswinkel. Wie bei so vielen. Das mußte dann schnell wieder vergessen werden. Sie hatten die Schulen wieder geöffnet. Herr Habicht(Aigle), der Mu­siklehrer, forderte nun Sammlung für das Morgengebet unter dem Jesuskreuz. Er tat es so selbstverständlich, wie er noch ein paar Monate zuvor die Disziplin für den Morgenappell unter'n Hakenkreuz ge­fordert hatte, während die Jabos schon brummend ihr Tagewerk begannen. Deutschland! Deutschland über alles, die Fahne hoch! Nur den Arm nicht sinken lassen. Die in der zweiten Reihe können ihn wenigstens aufstützen. Jetzt sich duk­ken vor dem Drankommen. Zu Dionys, dem Tyrannen... Rechts, links, näher und näher. Immer vier Zeilen. Wenn kei­ner ausfällt, müßte ich davonkommen. Wieder das Dict&e verpfuscht. Fräulein Moritz höhnt: die Hitlerbuben, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie die Windhunde: Und dumm wie Bohnen­stroh! Das sagt sie jetzt. Und verabreicht Ohrfeigen dazu, so im Vorbeigehen, mit dem Handrücken. Das würde dem gut tun, habe der Arzt gesagt, klatsch: Und wer nicht geschunden, sei auch nicht erzogen. Hatten wir tatsächlich mit der Panzerfaust im Graben gelegen. Bren­nend darauf zu töten?

Wenn man Glück hat, gehts per Anhal­ter nach Hause. Sonst zu Fuß, 10 Kilo­meter. Dann heißt es, die Familie ernäh­ren. Samt Mutters Eltern. Aus dem Nichts aufgetaucht mit nichts. Zwei wunderliche, weißgelockte Gerippchen nach einer unsäglichen Odyssee von Rei­chenberg im Sudetenland in den Nord­schwarzwald. Aber der künstlerische Herr Augst, nach der Familienüberlieferung von einem Juden(geschäftstüchtig, wie

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anders) einst um ein Vermögen gebracht, wo, wann und wieviel wurde nie recht deutlich, nichts desto weniger von den Nazis enttäuscht, die andere künstleri­sche Menschen bevorzugten, hatte einzig seine Herrenallüren herübergerettet, so, wie seine liebe Marie ihre Etepeteterien. Da sind die Kartoffeln zu fleckig: man muß sie tiefer schälen! Das Kraut ist so­wieso ungesund, bläht und ist typisch süddeutsch. Charlotte, was reden deine Kinder denn für ein Deutsch? Ich muß doch sehr bitten! Ich muß nur bitten. Bitten und betteln. Hamstern nennt man das. Mit leeren Händen dastehn. Betteln um Kartoffeln, einzeln, und die Höfe liegen Stunden weit auseinander. Wenn mein Vater dabei ist, muß er mit ihnen schnäpseln. Der kostbare Kirsch, die härteste aller Währungen. Es wäre ihnen wohl nichts zu kostbar, um den Schullehrer betrunken zu sehen. Kirsch, durch die hohlen Backen in den leeren Magen! Gutmütigkeit, Grausamkeit, wo beginnen, wo enden sie? Dann gibt es ja auch ein paar Kartoffeln. Etwas Kraut. Dann und wann sogarein Stücklein Speck! Vater taumelt an meiner Hand durch die Tür, Er ist fröhlich. So verliert er einmal das Herz seiner jüngsten Tochter für im­mer, Wie manche das auskosten.

Aber da gibt es auch die Bägolds-Bäue­rin, Und da ist ein Pfund Butter. Gelb­lich-weiß, aus der kühlen Kammer kom­mend, schwitzt es in der warmen Stube Molke aus. Blumen-relief-verziert liegt es auf dem grünen Krautblatt. Ein unfaß­bares Wunder und ein Vermögen.Du brauchst dich nicht zu schämen. Du brauchst doch nicht zu heulen. Da gibt es nichts zu genieren. Du zahlst doch. Das kostet bei uns zwei Mark fünfzig. Das hat die Butter bei uns immer geko­stet. Ja, geh nur und segnes Dir Gott. Vergelts Gott. Und wenn es ihn nicht gibt, dann soll er sich jetzt dazu erschaf­fen. Als Euch, Bäuerin, die Kinder weg­starben, seid Ihr nur noch gütiger ge­worden.

Nein, keine Urszene, jedenfalls keine er­innerliche. Aber ein unheimliches, lang­gezogenes Heulen. Am Ende ein schreck­liches Winseln, Wenn meine Mutter es nicht mehr aushält, kommt sie zu uns Kindern. Vater zu wecken wagt sie nicht.

Er träumt wieder vom Krieg, sagt sie. Wir sitzen aufrecht in unseren Betten und lauschen voller Schrecken. Im Bü­cherschrank steht die Geschichte seines mehrfach ausgezeichneten Regiments in steifes Leinen gebunden. Vater, was war denn das: schwere Maschinengewehre? Frag mir keine Löcher in den Bauch. Die Fotos zeigen einen eleganten Krieger. Eher distinguiert als heldisch. Undurch­sichtiges Lächeln zu Pferde. Schön gebet­tet auch zwischen weißen Schwestern. Eine, Anna, ist so blond und treu, daß es einem mit 11 Jahren noch beim Be­trachten wehtut. Dem Herrn Oberregie­rungsrat in Ülzen erschien der jünge bür­gerliche Leutnant aber dann doch nicht ganz standesgemäß. Seine Tochter bleibt ledig. Von 1919 bis 1983 trifft jährlich eine Karte zu Weihnachten ein. So lange sie lebt, legt meine Mutter sie eigenhän­dig auf den Geschenktisch. Was aber bleibt, ist das Heulen. Bis in deine schwere letzte Stunde, Vater.

Die Frau des Malers auf dem Schlitten. Mitten auf dem Kapellenweg, unserer nächtlichen Rodelbahn. Gebückte Ge­stalten in schweren dunklen Soldaten­mänteln. Eine vieldeutige Gruppe, dunkel verschmolzen. Das Rattern der Schlitten­kufen auf dem Eis. Einmal beim Vor­beigehen ein leiser, nie zuvor vernom­mener Schrei. Aber ihr Mann ist in Ruß­land. Da wird geredet. Im Urlaub hat er so große, kindlich blaue Augen. Auch seine Locken sind wie bei einem Kinde, blond und schütter. Mußte sie sich des­halb so über alle anderen toll gebärden, als sie dem Mädchen die Haare abschnit­ten, nachher, im Frieden? Ich hatte die beiden mehr als einmal ins Gebüsch tau­chen sehen. Lachend. Mehr Hirt und Hirtin, als Soldat und Hure, trotz seiner eleganten französischen Uniform. Unter den Freudenfeuern ihrer Blicke war mein dumpfer, kleinlicher Patriotismus weggeschmolzen, für immer. Sie war ein schönes Mädchen gewesen, die Franzo­senhure., Alle hatten sich nach ihr umge­sehen, die Geschlagenen, die Sieger, die Daheimgebliebenen. Im Wirtschaftswun­derland klang ihr Lachen dann bestellt, übertönt vom dröhnenden Gelächter ihrer neuen Freier, Als die unglückliche Ortsfrauenführerin in der Molkerei fast

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990