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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz Mersi- Erinnerungen von Bedeutung

zu Tode vergewaltigt wurde, da war sie wohl verraten worden. Als Ortsfremde hatte sie ihr Amt manchen allzu genau genommen. Es gab viele Vergewaltigun­gen in unserem Tal. Später, unter Ade­nauer, geschah eine geheimnisvolle Al­chemie. Das Böse war der Russe allein. Aber der war doch hier nie gewesen. Gut, weil erfolgreich, waren sowieso nur wir. Helga D.; mit Mutter und Bruder aus Karlsruhe evakuiert. In der Sammelklas­se bei Dr. Vetters letzten Unterrichtsver­suchen unter dem Gejaule der Jabos, ge­fällt sie mir sehr. Aber jetzt rennt sie an, den Kopf hinter den stürmenden Knien zurück. Und der Mund ist viel zu groß in dem kleinen Gesicht. Sei still, Helga! Sei still! Nicht schreien! Ich komme vom Berg herab, vom Bauern als Späher ins Tal geschickt. Was ist hier los? Der Jeep vorm Haus. Zu fünft sind sie über Hel­gas Mutter. Das Kind haben sie springen lassen, als die Mutter sich anbot, bettel­te, Aber warum sehe ich alles aus der Vogelperspektive? Von hoch oben, ganz frei, völlig ruhig? Dabei dehnt sich die Zeit. Alle Wege liegen unter mir. Komm, Helga! Komm, der hier ist der beste. Und er ist es tatsächlich. Niemand sieht uns, keiner verfolgt uns, niemand fängt uns. Wir liegen ganz geborgen beisam­men in einer Schleife des Wegs. Auf der Straße bewegt sich derweilen eine Kara­wane aus dem Morgenland. Marokka­ner zu Pferde, die Patronengurte über der Brust gekreuzt unter den weißen Wüstenmänteln. Maultiere tragen Waf­fen und Munition, Gottseidank, sie ha­ben keine Hunde. In der Dunkelheit schleichen wir zum Hof, Du erhältst Es­sen, ein Bett und wohl auch Pflege, das ist Sache der Frauen. 14 Tage später holt dich deine Mutter ab. Diese Mutter. Ich sehe mit Scheu auf sie.

Aber über alle diese Erinnerungen schiebt sich ein Bild, eine grobgerasterte Foto­grafie auf angegilbtem, von den Rän­dern her sich einrollendem Zeitungspa­pier voller Fliegenschmutz, im kühlen Vorraum des Rathauses der kleinen Schwarzwaldgemeinde an der Anschlag­tafel. Darauf ein Berg von Schuhen. Ein Berg von Kinderschuhen. Berge von Haa­ren, Berge von Brillen, Berge von Gebis­sen, von gewesenen Menschen. Von Kin­

dern von Menschen. Menschenkindern. (Butterberg, Studentenberg, Schwei­neberg, Kinderberg, Lehrlingsberg, gedankenlose, verfluchte Metapher!) Alle diese Kinderschuhe. Gleich? Später? treten einzelne hervor. Spangenschüh­chen, Reformschuhe, Schnürstiefelchen, viele, viele Schnürstiefelchen. Ausge­franste Senkel, wegstehende Kappen­ecken, durchgetretene Sohlen, schiefge­laufene Absätzchen. Für alles steht ein Name. Unbegreiflicher, nie endender Schrecken: Auschwitz. Deutschland, Deutschland über alles, über jedes Maß hinaus mit Schuld beladen. Verblüffend, völlig unbegreiflich die Lösung der Er­wachsenen: Sie verweigern die Annahme. Ja, die eigenen Leiden, die sie selbst er­litten hatten, die man ihnen zugefügt hat: der Krieg, die Flucht, die Verluste an Hab und Gut: endlos wiederholte The­men. Nichts hat daneben Raum. Vor diesem Berg von Kinderschuhen geht der erste eiserne Vorhang nieder: Der Vorhang des Vergessens. Um diese Berge wird die erste Mauer errichtet: Die Mauer des Schweigens. Bald sollten sie ohnehin Wichtigeres zu tun finden, wobei sie nicht gestört werden wollen: der Wiederauf­bau beginnt. Den Rest erledigen die Sie­ger. Der kalte Krieg wird erfunden.

Da gab es Max Ruh, den hünenhaften Stadtpfarrer von O. Ein Jahr lang, wäh­rend die Welt unterging, hatte er uns über das sechste Gebot unterrichtet. Per exclusionem, ex negativo. Was alles die Fleischeslust nicht sei. Das dauert. Und die schrecklichen, immer gleichen Bewegungen auf der schweren Abteilung in Emmendingen! Unheilbare Idioten. Die Mädchen sollen doch jetzt besser ein­mal hinaus. Ihr Bürschlein wißt schon, immer die gleichen Bewegungen, immer auf und ab. Dabei tropft denen der Speichel aus dem Mund. Da gehört ihr einmal durchgeführt. So endets, wenn einer immer die Hände in den Hosen­taschen hat. Ja, ja, das stand schon in ‚Hilf mit, Zum Troste bleibt da nur die Maus. Wir locken sie mit kleinen Brot­krümelchen aus ihrem Loch hinter dem Wandschrank hervor. Immer an der Wandleiste entlang, etwa 30 bis 40 Zen­timeter Vorgabe sind am günstigsten. Ihre dunklen flinken Augen. Die lusti­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

gen Bewegungen. Einmal fällt der Stadt­pfarrer den Huber Franz mit einer ein­zigen Ohrfeige wie eine Fichte. Ja, ja, satter Sägmüller, so kanns gehen. Das war doch sehr eindrucksvoll. Der hünen­hafte Kleriker! So gewaltig, daß alle in hysterisches Gelächter ausbrechen, als er in grollendem Ton das romanische Ton­nengewölbe eines Doms beschreibt, wäh­rend seine fleischige Rechte wie gewöhn­lich über den mächtigen Leib unter der schwarzen Soutane streicht. So tut er uns dann auch wieder leid. Weil er nicht versteht, warum wir lachen müssen, selbst die Hungrigsten. Es heißt, daß jeder Kommunikant eine Torte bringt ins alte, mächtige Pfarrhaus, die Kastanien be­schattete Außentreppe hinauf. Diese Torten. In meinen Phantasien werden sie zu mächtigen, vielschichtigen Obladen, gelagert auf gewaltigen Gestellen unter kühlen Kreuzgewölben.

Die Besatzungsmacht stellt dem Herrn Pfarrer alsbald ein Auto zur Verfügung. War er nicht ein aufrechter Antifaschist gewesen? Er stellt den verschiedenen Schulkollegien Persilscheine aus. Da hat er sie jetzt in der Hand. Endlich kann er dem Konkordat seines geliebten XII. Pius wirklich Respekt und Geltung verschaf­fen. Das Auto ist ein Citroen. Schleicher heißt der Typ bei uns wegen seiner ge­drückten Form. Aber so sehr in Ordnung ist der nun auch wieder nicht. Na ja, ein Franzosenauto eben. Eines Tages müs­sen wir ihn jedenfalls anschieben, den mächtigen Mann in seinem flachen Auto. Die Mädchen platzen fast vor Lachen. Wir, dürre Gespenster, drücken und drük­ken. Es fehlt uns einfach an Gewicht. Ja, Newton, hier wirst du im Fleische begriffen. Aber da, ein erstes Rucken. Tatsächlich, er fährt. Wie eine wohl­wollende Sonne erscheint sein Gesicht im Seitenfenster. Nein, wir können ihm nicht wirklich böse sein. Dies ist ein Augenblick reiner Freude, Er muß das Allerheiligste nicht zu Fuß nach Hause tragen. Er kam aus einem Sterbehaus. Aber wie er so dahinfährt, muß ich wie­der an die Torten denken, die viel­schichtigen Obladen. Als ob immer Erstkommunion wäre,

Einmal hatte er mich angeschrien, vor dem Umbruch, wie das jetzt hieß, mit

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