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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz Mersi- Erinnerungen von Bedeutung

hochrotem, glänzenden Gesicht:Wenn du glaubst, weil du aus dem roten Mann­heim kommst, könntest du dich hier mausig machen, dann irrst du dich aber ganz gewaltig. Geirrt aber hatte er sich. Ich hatte einen seiner Scherze mißver­standen. Es war gar keiner gewesen, und ich hatte doch lachen müssen.

Herrn Bielers Pendant an meinem Kinder­götterhimmel war Tante Ketsche(Kät­chen) gewesen. Diese, in den Augen mei­ner Mutter nicht ganz lupenreine Witwe von zudem etwas unklarer Abkunft, be­wohnte mit Tochter und Sohn das Dach­geschoß. Sie hatte auch nach 1936 im­mer genügend Butter. Der Milchmann lieferte sie bei ihr persönlich in der Woh­nung ab. Was aber trieb unseren lieben Franz dahin? Hans Lewinsky war schließlich älter und galt als fast etwas blöde. Er war noch nicht einmal im Jungvolk. Was trieben solche zwei? Müt­ter machen sich zu allen Zeiten Sorgen. Und erst recht in solchen. Blödelei, liebe Mama. Schlimmer: stundenlangem süßen Zeitgenuß sind sie ergeben. Zu nix, für nix, einfach so eben: Aus dem Dach­fenster sehen. Rate, rate, was ist das, immer wieder, Endlos wiederholte kin­dische Spiele. Winzige, aus Bakellit ge­preßte Nummerntäfelchen mit roten Bürogummis wegschnellen. Daß die rot waren, war wichtig. Das waren die be­sten. Später mußte man nachsehen, wel­che Täfelchen am weitesten geflogen wa­ren. Die grünen, die roten, die blauen, die gelben? Die Siebener, die Dreier, die Vierer, die Neuner? Je nachdem rechne­ten sich Gewinn und Verlust. Nachschub gab es immer aus unserem Werk. Das wird später Ziel der englischen Bomber. Die greifen nur nachts an. Aus Verse­hen werden sie dabei auch unser Haus treffen.

Vorerst einmal jedoch spiegeln wir. Nie­mand kann uns sehen. Die Kinder freuen sich und hüpfen hinter dem Lichtfleck her. Die Erwachsenen benehmen sich merkwürdig, sie ärgern sich. Das Pferd des Eiswagens aber nimmt es übel und drückt sein mächtiges Hinterteil in das Schaufenster des Waschmittelladens mit

der ewigen Persilreklame. Das haben wir

nie verraten, Was aber tat eigentlich Frau Lewinsky

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in dieser Zeit. Wir erfuhren es nie. Uns jedenfalls ließ sie in Ruhe. Bis auf ei­nen, in meiner Erinnerung traurig grau­en Morgen. Da ergriff sie uns bei der Hand, eröffnete meiner Mutter, mich in die Stadt mitzunehmen und zerrte uns zur Straßenbahnhaltestelle. In der Stadt ging es auf Nebenstraßen weiter. Wie beim Verstecken. Hie und da lagen Scherben auf dem Trottoir. Aus einer düsteren Toreinfahrt weist ihre knochige Prophetenhand auf ein großes, rauchge­schwärztes Gebäude. Sie sagt: ‚Das werden sie zu büßen haben! Das wird über sie kommen und über ihre Kinder! Aber ihr werden mitleiden müssen. Dunkle Drohung. Im Weitergehen sagt sie noch:Und wenn ihr jetztmal zum Kinderarzt müßt, das kann ich euch verraten, dann wird kein ordentlicher mehr das sein. Alle guten Kinderärzte sind Juden. Triumph der Parze. Selt­same Mischung von Mitleid und Scha­denfreude. Wir begreifen nichts, verste­hen aber, woraufs ankommt: daß hier ein böses Ende seinen Anfang nimmt. Und daß es uns nicht verschonen wird.

Als es dann mit mir wirklich soweit ist, gibt es doch noch einen. Der rasende Schmerz. Ich liege ausgestreckt. Opfe­rung Isaaks. Die Männer, der Arzt und mein Vater beugen sich dunkel und auf­merksam über mich. Juif, so haben sie dich immer genannt, Vater. Die Nase, die dunklen Augen. Mutter war es nie recht. Jetzt schon gar nicht. Hinter mei­nem Kopf steht eine junge Frau. Sie zieht gerade ihr Kind an. Aber sie blickt auf uns. Ich sehe es verkehrt, so sehr verrenke ich vor Schmerz den Hals. Spä­ter muß ich natürlich schon im Haus­gang erbrechen. Auf Armen getragen. An den Türen stehen die Frauen, blik­ken neugierig auf mich, wohl auch mit­leidig. Da ist es gut, wenn einer früh in Drachenblut gebadet wurde, Von Anna Wickenhäuser. In der Wanne meiner Hebamme, ihrer Mutter, Zum Abtrock­nen auf den Tisch gehoben, betrachten mich die beiden Frauen, Mutter und Tochter, und lachen fröhlich. Ich bin sehr stolz. Anna gefällt mir. Sie ist im­mer lustig. Ich glaube, daß ist meine früheste Erinnerung. Sie kann nicht erzählt sein, denn niemand kennt sie

außer mir. Später dann die schöne Lau, Mörike, Auch Moritz von Schwind. So entstehen Wert, Schätze zum Zehren. Früh, im Halbdunkel, mehr am Körper, mehr im Leib, langsam wachsend, ein Geflecht, nie völlig zu entziffern. Der Kopf fügt später nur die Worte hinzu. Wenn wir dann Herbert hüten, Du, Dor­le, und ich, sind wir eigentlich schon zu alt dazu. Es liegt ein Reich hinter uns. Herbert ist Dorles jüngster Bruder. Er hat sie schönsten Augen, die ich jemals sah, grau mit braunen Einsprenkseln un­ter langen Wimpern. Er muß früh ster­ben. An Meningitis. Gab es da noch kein Penicillin? Es war die französische Zone. Wir gehen den gefroreren Fluß entlang. Im Schutz der Dämmerung hoffen wir, Pflaumenschnaps und Wurstwaren durch­zuschmuggeln. Schwarzmarktwährung. Für Schreinerarbeiten von Dorles Vater. Sie hätte alles allein tragen müssen. Den­selben gefährlichen Weg. Ich schwänze die Schule. Das Glitzern der Sonne im gefrorenen Gras. Das geschickte Mäd­chen öffnet eine der Dosen. Sie führt das Messer bei sich. Ich stopfe mich mit Wurst voll. Sie sieht zu. Der Geruch von Majoran am kalten Morgen! Mädchen können unglaublich mutig, zäh, tapfer, klug sein, wenn man sie läßt. Wenn zum Beispiel ein Reich untergegangen ist, ein Männerreich. Dein Leben wurde schwer, vielfach vom Tod begleitet. Vielleicht weil du so viel ertragen kannst. Vielleicht muß immer dieselbe Menge getragen werden, und solche wie du übernehmen besonders viel davon. Ich habe dir dabei nicht mehr geholfen.

Zurück, weit, in die erste Klasse. Zu Herrn Lehrer Uhle. Vom Scheitel bis zur Sohle zackig gekrümmt. Gerade sit­zen! Hände auf die Bank! Schulanfang 1936. Namen laufen auf mich zu. Aus der Bank spritzen. Es kommt näher und näher. Wie heiße ich? Mein Name ist weg. Fort. Nie gewesen. Ich habe nie einen Namen gehabt. Sie rufen ihn mir halblaut zu. Ich verstehe nichts. Aber ich sehe ihn in Großbuchstaben vor mir. Lesen habe ich ja schon von meinen Schwestern gelernt. Aber jetzt bleiben auch die Buchstaben sinnlos. Für so et­was muß es ja Schläge geben! Dafür kriegt man ganz zu Recht Schläge. Das

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990