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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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hier ist die Schule, da weiß man seinen Namen. Da ruft man sich auch nicht zu. Für all das gibt es jetzt Schläge. Schläge, die man kriegt und schlimmer, Schläge, die man fürchtet, die auf einen zukom­men, zulaufen mit dem Einmaleins, mit dem Alphabet, mit den Strophen des Gedichts. Am allerschlimmsten die, de­nen man zusieht, zuhört. In tadelloser Haltung. Man ist ein deutscher Junge. Herr Uhle, stellt sich heraus, ist nicht kriegsdienstverwendungsfähig. Aus dem Kinderland-Verschickungslager dringen Schürzenjägergerüchte. Sogar von Fol­gen bei einem fromm bezopften Fränzle ist die Rede, Das Lager führt er tadellos. Disziplin ist alles. Wer nicht geschunden ist, ist nicht erzogen.

Bleibt der Blick. Der Blick hinaus aus dem Fenster. Auf den Ahorn, gezackte Blätter, lichtes Grün vor blauem Him­mel, wenn man Glück hat. Es ist aber das Glück, wenn der Blick kommt. Er spricht: Komm zu mir, komm ganz her­aus zu mir. Da ist nichts außer uns bei­den. Du bist mein, ich bin dein, darf niemand herein als du allein... Und Herr Lehrer Uhle ist draußen. Herr Leh­rer Uhle ist fort. Es hat ihn nie gegeben. Der Blick macht Herrn Lehrer Uhle aber verrückt. Jetzt muß er dreschen, was das Zeug hält. Aber das nützt nichts. Ich spüre nichts, ich kann alles ertragen. Schließlich gelte ich als Held. Das ist mir

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Franz Mersi

Pädagogische Hochschule Heidelberg Fachbereich VI Sonderpädagogik Zeppelinstraße 1

D-6900 Heidelberg 1

peinlich, weil ich es besser weiß. Und mehr noch, weil ich fürchte, der Blick nimmt das übel und läßt mich sitzen, kommt beim nächsten Mal einfach nicht. Er schützt wie eine Mutter, ist wie eine süße Flucht. Aber ein paar Mal hilft er mir auch, aufzustehen und zu sagen: Das ist nicht gerecht. Rudi hat das nicht getan! ‚Jansen kriegt sie nur, weil er von der Siedlung ist. Von den Roten. Die Schläge danach sind wie ein Sieg.

Aber die Eltern sagen, zumindest zu mir, da wird schon etwas dran gewesen sein. Du wirst es schon irgendwie verdient ha­ben. Rudi auch, und Heinz erst recht. Schaden tut es sowieso keinem von euch, Im Gegenteil, Abhärtung ist das. Man muß sowas ertragen lernen. Auch Unge­rechtigkeit. Gerade du! Mein Gott, was wird aus unserem Buben werden, wenn er zu den Soldaten kommt. Und erzähle ja nicht anderswo, hörst du, erzähl es niemandem, daß du den Herrn Kollegen hast lauschen sehen an der Tür des Nach­barzimmers, Was hattest du denn über­haupt verloren im Gang? Was mußtest du zur Toilette gehen? Das ist doch gar nicht erlaubt. Dazu bist du doch zu groß. Fünfundzwanzig Jahre später rede ich manchmal selbst so. Nicht oft, aber eben doch. Immer wenn ich unter Druck ge­rate, mich selbst unter Druck setze und den Druck weitergebe, statt zurück.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 3, 1990

Franz Mersi- Erinnerungen von Bedeutung

Die Türklinke ist aus Messing, geformt wie ein liegendes S mit einem runden Knopf am aufkrümmenden Ende. Sie ist sehr hoch angebracht, so daß man, wenn man sie betätigt, notwendig in die Hal­tung eines Dieners verfällt. Der ganze Körper weiß, daß, wer hier eintritt, zu tun hat, was er geheißen wird. Dieses ganz und sonst nichts; und daß man das immer schon schuldig geblieben ist. Aber dann geht man durch das Haus hindurch in den Garten. Ein paar kost­bare Runden drehen. Bevor der Unter­richt beginnt. Hat man Glück, und die­ses Glück kann man fast immer haben, trifft man die Hübelchen, sei es, daß man sie einholt, sei es, daß sie einem begeg­nen. Hand in Hand kommen sie daher, Morgen für Morgen. Brüderchen und Schwesterchen. Das sind sie tatsächlich. Typisch für dieses Milieu..., Konfe­renzgeflüster... Und immer mit dem gleichen, ein wenig törichten, aber ganz und gar freundlichen, liebevollen Lä­cheln um die dicken Brillen. Sie gelten als Hilfsschüler. In der Schule der klugen Blinden sind sie schon eine Verlegen­heit. Sehen noch und sind dumm! Dazu stammen sie, wie gesagt, aus keiner guten Gegend. Das Problem ist, daß sie glück­lich sind und machen. Selbst die, die ihre Pflichten ernst nehmen. Ob euch davon etwas geblieben ist? Für euch, für uns? Das ist es, was ich gerne wissen würde.

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