Eine Evaluation psychiatrisch versus heilpädagogisch geprägter Versorgung schwergeistig- und mehrfachbehinderter
Erwachsener
Von Holger Probst und Beate Gleim
Sind schwer geistig behinderte, hospitalisierte Dauerpatienten noch in der Lage, zu lernen und Kompetenzen zu entwickeln, wenn ihr Lebensraum von einem medizinisch-psychiatrischen in einen(heil-) pädagogisch geprägten umstrukturiert wird?
An parallelisierten Stichproben läßt sich mit retrospektiven Katamnesen aufgrund damaliger Krankenakten und aktuellen Beurteilungsskalen zeigen, daß oligophrene Patienten im Verlauf von 10 Jahren in einer Heilpädagogischen Einrichtung Kompetenzfortschritte von 1—2 Entwicklungsjahren durchmachen, besonders im Bereich lebenspraktischer Kompetenzen.
Are severly retarded adults, who have spent their lives in mental hospitals, liable, to show personal development when their surroundings shift to a pedagogically influenced setting?
A retrospective follow-up study on related samples, rated according to present state and according to former degree of handicap on the basis of clinical information sheets more than ten years ago, yields as result, that by pedagogic setting and treatment (rather than psychiatric care)clients show considerable progress of one to two years of mental age, especially in every day competencies.
Einführung in die Situation
In diesen Jahren vollziehen die meisten Bundesländer die Umstrukturierung ihrer Psychiatrischen(Landes-)Krankenhäuser in der Weise, daß sie den„Oligophreniebereich“, d.h. Stationen für Geistig Behinderte auflösen und in Heilpädagogische Heime(HPH), Abteilungen oder(Wohn-) Einrichtungen(HPE) überführen(Gaertner 1983). Die ersten Umwandlungen wurden in den 70er Jahren infolge der Psychiatrie-Enquete geplant und um 1980 ins Werk gesetzt, so daß mittlerweile Möglichkeit und Anlaß bestehen, den Erfolg des Paradigmenwechsels— von der medizinisch-psychiatrischen zur sozialwissenschaftlich-pädagogischen Zuständigkeit— zu messen, So das Ziel dieser Untersuchung.
Wie wohl je nach Staat bzw. Bundesland die psychiatrische Pflege und Verwahrung noch gängige Praxis, soeben überwundene Gegenwart oder gar noch Ziel ist, geht die Diskussion weiter voran und jenseits der Heilpädagogischen Heime bzw. Einrichtungen werden ambulante Dienste und vollständig normalisierte dezentrale und sozial integrierte Lebensformen für Intensivbehinderte gefordert (Niehoff& Pickel, 1987) oder praktiziert. In dieser Umwälzung mag die hier vorgelegte empirische Evaluation der Auswirkung reformierter Versorgung Schwergeistig- und Mehrfachbehinderter geeignet sein, erreichte Positionen zu festigen, damit die Humanisierung gegen Rückschritte gesichert vorangehen kann.
Auf die Gefahr, daß die Gegenüberstellung zum Holzschnitt gerät, jedoch mit
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990
Respekt für die seit den 70er Jahren geführte Diskussion, seien nur in aller Kürze die hergebrachte psychiatrische Versorgung und ihre Alternative skizziert. Die Psychiatrie-Enquete des Jahres 1975 (S. 226) beschreibt den 0.g. Personenkreis als„zeitlebens oder über längere Zeit hinweg bettlägerig, bewegungsgestört bis zur Bewegungsunfähigkeit, an einem oder mehreren Sinnesorganen geschädigt, nicht ansprechbar, antriebslos, verhaltensgestört‘‘. Theunissen(1986, S.22) differenziert diese Population in mehrere Problemgruppen:
— Personen mit schweren Folgen der Langzeithospitalisierung wie Verweigern der Nahrung, Apathie, verlangsamte, veränderte Motorik und Koordination, fehlende Ausscheidungskon
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