Holger Probst& Beate Gleim
trolle, Fremdaggression und selbstverletzendes Verhalten.
— Schwerst Geistig Behinderte im engeren Sinne, deren minimales Entwicklungsalter von nur wenigen Monaten(Säuglingsstatus) im Vordergrund steht.
— Mehrfachbehinderte im engeren Sinne, deren körperliche oder sensorische Schädigung vorherrscht, sowie Menschen mit weiteren speziellen Krankheiten wie Anfallsleiden oder Organinsuffizienzen.
Die Anstalt ist für diese Menschen eine „totale Institution“(Goffman 1973), die ihren Tages- und Jahresablauf vollkommen regelt, einschränkt, routiniert und damit„geschichts- und zeitlos macht‘(Jervis 1988, 129). Die energielose, träge, schmutzige, regredierte und infantile, die bizarre, starre und stereotype Erscheinungsform bildet das Syndrom der„Anstaltsneurose‘, das„durch die Art und Weise verursacht wird, wie man Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern versorgt‘(Barton 1974, 14), Menschen, die hier ihren„bürgerlichen Tod“ erleiden(Goffman 1973, 26).
In dem Maße der Arglosigkeit, in dem eine intakte Person mitfühlend oder resignativ fragt, ob diese Menschen überhaupt zu einem anderen Leben fähig sein könnten, offenbart sich, wie weit dieser Gesellschaftsausschnitt als kulturelle Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Das„biologistisch-nihilistische Menschenbild‘(Theunissen 1986,24) der bislang zuständigen Disziplin sieht seine Patienten in der Holschuld und interpretiert ihre Behinderung als einen sich im Inneren des Menschen vollziehenden Prozeß auf der Grundlage defekter biologischer Trägerstruktur(Niehoff 1987, 37) oft auch als„Matrix‘“ bezeichnet. Unter dieser Prämisse sahen Ärzte wie Pflegepersonal ihre Aufgabe im Sauberhalten und Ruhigstellen, im Nähren und Verwahren.
Diese unvermeidlich kritische Einschätzung der Folgen des„medizinischen Modells‘*, ursprünglich stärker mit Blick auf die psychiatrische Versorgung psychisch und sozial Kranker formuliert, machte sich die außerparlamentarische Lobby
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- Versorgung schwergeistig- und mehrfachbehinderter Erwachsener
Geistig Behinderter zu eigen. Eine erste, heute als moderat eingestufte Konsequenz des Umschwunges zum ‚„sozialwissenschaftlichen Modell“ mit psychosozialer bzw.(heil-) pädagogischer Verantwortung war und ist die Schaffung Heilpädagogischer Heime. Ihre Konzeption folgt im Wesentlichen den Prinzipien der Normalisierung(siehe auch Theunissen 1988,26 und 1987, 180 ff.), d.h.:
— Die Heilpädagogischen Heime heben Geistig Behinderte von psychisch Kranken ab und schaffen ihnen einen Platz außerhalb der Strukturen psychiatrischer Krankenhäuser.
— Heilpädagogische Heime unterstehen pädagogischer oder psychologischer Leitung, dort arbeiten Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Erzieher.
— Psychopharmaka, besonders Sedativa werden ausgeblendet.
— Heilpädagogische Heime strukturieren die Tagesabläufe durch die zeitliche und Örtliche Trennung von Arbeit/Tagestätigkeit, Wohnen, Freizeit, therapeutische Angebote.
— Die Wohnformen bieten normalen und altersgemäßen Lebensstandard, die Orientierung an Familien oder WG-ähnlichen Gesellungen, sie ermöglichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern.
— Die pädagogisch geprägte Betreuung versteht ihre Klienten als Subjekte mit ernstzunehmenden und begründeten Wünschen, Bevorzugungen, Ängsten und Absichten; sie ist subjektzentriert, klientenzentriert.
— Das Personal nimmt möglichst langfristig-stabile, emotional echte zwischenmenschliche Beziehungen zu seinen tuendi auf.
— Betreuung und Förderung sind entwicklungsorientiert, d.h. sie respektieren den individuellen Stand der psychosozialen, körperlichen und kognitiven Entwicklung, bieten aber Anreize, jegliches Vermögen weiter zu entwickeln.
Somit sind die Lebensumstände beschrieben, deren Auswirkung auf Geistig Behinderte im folgenden exemplarisch untersucht wird. Wir setzen dazu den individuellen Gewinn an Kompetenzen
und den Abbau von Verhaltensstörungen(abhängige Variable) unter dieser vs. jener Lebensform(unabhängige Variable) als Erfolgskriterium.
Das Vorgehen der Untersuchung
Zwei Einrichtungen zur Versorgung Geistig Behinderter, deren eine die medizinisch-konventionelle und deren andere seit 1980 eine heilpädagogisch orientierte Unterbringung und Behandlung praktizierte, waren für unser Untersuchungsvorhaben zu gewinnen: das Psychiatrische Krankenhaus Herborn, Hessen, das bis zum Jahr 1989 mehrere konventionelle Oligophreniestationen mit je 20—30 Patienten unterhielt und das Heilpädagogische Heim Langenfeld, Nordrhein-Westfalen, das 1980, durch die Psychiatriereform angestoßen, durch konzeptionelle, personelle, bauliche und organisatorische Umstrukturierungen aus dem Oligophreniebereich des örtlichen Psychiatrischen Krankenhauses entstanden war. Wir sehen die beiden Einrichtungen als typische Exemplare der oben geschilderten medizinisch-pflegerischen vs. heilpädagogisch bestimmten Behandlungsweise Geistig Behinderter an.
Für den zurückliegenden Lebens- und Erfahrungszeitraum der untersuchten Behinderten bedeutet dies, daß die Bewohner des Heilpädagogischen Heimes von 1980 bis zum Untersuchungszeitpunkt— Mitte/Ende 1989— nahezu ein Jahrzehnt pädagogisch-therapeutisch bestimmter Umgebung erfahren haben, nachdem sie alle, in den 10—15 und mehr Jahren vor 1980 medizinisch-pflegerisch bestimmte Versorgung genossen hatten. Eben diese bildet quasi bis zum Untersuchungszeitpunkt den Lebensrahmen der Herborner Psychiatriepatienten(zum Zeitpunkt der Datensammlung begann auch in Herborn die Umstrukturierung in eine Heilpädagogische Einrichtung). Wir dürfen also annehmen, daß die unterschiedlichen Lebensumstände zehn Jahre lang ihre Wirkung auf ein bis dahin als homogen anzunehmendes Klientel taten.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990