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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Holger Probst& Beate Gleim- Versorgung schwergeistig- und mehrfachbehinderter Erwachsener

Diese Annahme gleichartiges Klientel in beiden Einrichtungen vor 1980 ist wohlbegründbar: Beide Einrichtungen waren übliche Stationen in Psychiatri­schen Landeskrankenhäusern, und die Psychiatrie-Enquete von 1975 befand bei der Dokumentation der Lebensum­stände oligophrener Patienten keinerlei regionale Differenzierungen für notwen­dig. Bundesweit lebte in den Oligophre­niestationen die Auslese der unattrak­tivsten Patienten, derBodensatz der Hospitalisierten und Chronifizierten, der Langzeit- und Dauerbewohner. Auch die nahezu vollständig eingesehenen Kran­kenakten beider Einrichtungen bestätig­ten, daß weder hinsichtlich Alter, Ge­schlecht, sozialer Herkunft, noch nach Ätiologie/Diagnose, Schweregrad der Be­hinderung Unterschiede in der Struktur desPatientengutes auszumachen ge­wesen wären.

Die Einschätzung der Langzeitwirkung verlangt nach einer longititudinalen Un­tersuchungsweise, die wir durch retro­spektive Katamnesen zu simulieren ver­suchen. Den aktuellen Entwicklungs­stand der Geistig Behinderten können wir durch systematische Beurteilungs­verfahren objektivieren; wir sehen das verstrichene Jahrzehnt als den Katam­nesezeitraum eines damaligen status quo an; den damaligen Status der Patienten entnehmen wir den Krankenakten vor 1980 und haben so gegenüberstellbare prae- und post-Daten.

Diesem methodischen Grundgedanken folgend verlief die Datenerhebung und -aufbereitung wie folgt:

Erster Schritt: Testen des individuellen Ist-Standes

Pfleger und Erzieher beurteilen den ge­genwärtigen Entwicklungsstand der ih­nen vertrauten Patienten, beurteilen den Stand ihrer Kompetenzen mittels stan­dardisierter Beurteilungsskalen. Diese waren zum einen eine Auswahl von Ska­len des Heidelberger-Kompetenz-Inven­tars für Geistig Behinderte von Holtz, Eberle, Hillig& Marker(1984) und zwar folgende:

Aus dem Bereich 1.0. Praktische Kompetenz die Subskalen 1.1. Nahrungsaufnahme/Kleidung, 1.2. Hygiene.

Aus dem Bereich 2.0. Kognitive Kompetenz die Subskalen 2.7. Lesen/Schreiben, 2.8. Sprachverstehen, 2.9. Sprachproduktion.

Aus dem Bereich 3.0. Soziale Kompetenz die Subskalen 3.1. Lern- und Arbeitsverhalten, 3.2. Identitätsfindung/Selbstkonzept, 3.5. Perspektivenübernahme/Sozial­

kontakt,

3.6. Kooperation/soziale Regeln.

Die Auswahl von Subskalen, die hier zu insgesamt 72 items führte, sollte die Be­urteilung auf Bereiche konzentrieren, die der Beobachtung des Personals gut zu­gänglich sind und sollte zudem Beurtei­lerzeit einsparen. Da das Heidelberger­Kompetenz-Inventar auf ein vergleichs­weise kompetentes Klientel Geistig Be­hinderter geeicht ist(Geltungsbereich 7-16 Jahre), waren seine items für viele der Intensiv Behindertenzu schwer, so daß für ihre Beurteilung leichtere Skalen benötigt wurden. Wir wählten die Ent­wicklungsskalen von Straßmeier(1981), die das erste bis fünfte Entwicklungs­jahr repräsentieren und trafen auch hier eine Auswahl. Sie fiel auf die drei Sub­skalen

A. Selbstversorgung Sozialentwick­lung(60 items)

D. Sprache(60 items)

E. Denken/ Wahrnehmung(60 items)

In den beiden Einrichtungen werden 61 (Langenfeld) bzw. 68 Patienten(Her­born) durch ihr Betreuungspersonal be­urteilt. Die Meßwerte haben im Falle des Heidelberger-Kompetenz-Inventars die Form von Rohpunkten, d.h. Sum­menscores aus den vierfach gestuften Antworten auf jedes item; da alle Patien­ten erwachsen sind und dieselbe Nor­mentabelle angewendet würde, erübrigt sich die Transformation in Standard­werte. Im Falle der bei den extrem Be­hinderten eingesetzten Straßmeierskalen verstehen sich die Meßwerte als Monate des Entwicklungsalters.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990

Zweiter Schritt:

Herstellung von parallelen bzw. analogen Stichproben in beiden Einrichtungen

Aus den 129 ‚getesteten Klienten bei­der Einrichtungen bilden wir Parallel­stichproben; jedem Patienten der Ein­richtung A entspricht ein gleich kompe­tenter Bewohner der Einrichtung B. Aus der mit dem Heidelberger-Kompetenz­Inventar testbaren Partie der mittel­gradig Retardierten lassen sich 17 Paare bilden. Die Zuordnung der Paar­linge geschieht zunächst nach dem Ge­samtscore über die Summe aller Sub­skalen. Höchstens sechs Rohpunkte Dif­ferenz werden toleriert. Die unvermeid­baren Differenzen summieren sich zu Null(siehe Tab. 1). Darüber hinaus wird darauf geachtet, daß auch die Werte in den Subskalen nahe beieinander liegen, womit neben dem Kompetenzniveau auch die qualitative Ähnlichkeit der Paar­linge beachtet wird.

Die Parallelisierung extrem behinderter Probanden(die nach Straßmeier-Skalen beurteilt wurden) stand vor der erwart­baren Komplikation, daß sich im Psychiatrischen Krankenhaus Herborn deutlich mehr Patienten mit extrem niedrigen Entwicklungsaltern fanden. Dieser Befund greift unseren Ergebnis­sen vor, besagt er doch z.B., daß sich im Psychiatrischen Krankenhaus 18 Patien­ten mit einem Entwicklungsalter unter 40 Jahren finden, wogegen dies im Heil­pädagogischen Heim nur drei Klienten sind. Anstelle von Parallelstichproben bildeten wir hieranaloge Stichpro­ben, das bedeutet, daß wir nach Rang­plätzen parallelisierten: Dem Behinder­ten mit dem niedrigsten Entwicklungs­alter in Langenfeld wird der Proband mit dem niedrigsten Entwicklungsalter in Herborn zugeordnet usf.. Auf diese Weise konnten wir 25 Paare bilden, wo­bei zwischen den Paarlingen systema­tische und bedeutsame Differenzen des Entwicklungsalters zugunsten des Paar­lings im Heilpädagogischen Heim be­stehen(siehe Tab. 2).

Auf diesem Stand der Darstellung der Untersuchungsmethodik lassen sich jetzt die Hypothesen formulieren.

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