Heinrich Schurad
Das Versagen der deutschen Heilpädagogik
folgen bzw. Mißerfolgen der Wissenschaft (Stichwort Fallibilismus) besonders betont(vgl. Popper 1969, 51 ff.).
Als Zielsetzung im ethisch-moralischen Bereich benennt sie geradezu auch„der Schutz bestimmter„Rechte“ von Individuen und Gruppen“(Popper a.a.O., S.54) und formuliert:„Wenn die Vernunft weiterwachsen und die menschliche Rationalität am Leben bleiben soll, dann darf die Verschiedenheit der Individuen... nie angetastet werden“(a.a. O., 124; vgl. Albert 1978, 180—182).
Ich will im folgenden versuchen, die von Anstötz aufgeworfene Problematik unter der 0.g. Generalthese von der Unantastbarkeit der‘ Verschiedenartigkeit der Individuen zu behandeln. Diese Generalthese beinhaltet, daß es sich bei den indizierten Schwerstbehinderten um menschliche Individuen handelt, und zwar verschiedenen Behinderungsgrades, verschiedenen Alters und durchaus verschiedenen Entwicklungsalters und verschiedener Lebenserfahrungen, die von Rationalität und Zeitlichkeit, von Emotionalität und Sozialität geleitet werden. Die These inkludiert also sowohl das Argument von der Absolutheit des menschlichen Lebens unabhängig von der Zu- oder Aberkennung eines Personstatus bzw. vom Menschen als Selbstzweck(vgl. Spaemann 1986,90—91) wie von der Unantastbarkeit der Würde und der Freiheit des Individuums(vgl. Höffe 1986, 117—118).
Dem stimmt auch Anstötz ausdrücklich zu, wenn er in seinem Buch„Ethik und Behinderung“ zum Ausdruck bringt: „Schwerstbehinderte Menschen, die als bewußte Lebewesen ebenso wie Kleinkinder und meist auch nichtmenschliche Wesen nicht in der Lage sind, die eigenen Interessen und Ansprüche gegenüber konkurrierenden Interessen und Ansprüchen zu artikulieren, zu verteidigen und schließlich‘durchzusetzen, sind in besonderer Weise auf eine Stellvertreterschaft angewiesen, die für die Wahrung auch ihrer Anliegen im Sinne der utilitaristischen Deutung der Gleichheitsidee Sorge trägt“(1990, 121).
Und von einer Stellvertretung im Sinne des Tötens derer, deren Interessen(z.B. an Leben und Lernen) vertreten werden
sollen, kann doch sicher nicht die Rede sein! Oder?
Und damit wären wir bei dem eigentlichen Anliegen, zu dem ich in der geforderten Kürze gern in der Weise von Argument(Anstötz) und Gegenargument (Schurad) Stellung nehmen möchte. Ich möchte allerdings aus der Fülle der Argumente, die in dem in der„„Heilpädagogischen Forschung“(Band XV, Heft 3/ 1989) erschienenen Aufsatz von Anstötz angesprochen werden, nur zwei mir wichtig erscheinende herausgreifen.
1. Argument:
Die deutschsprachige Heil- und Sonderpädagogik hat es bislang sträflich versäumt, sich über ethische Grundfragen Gedanken zu machen, zumal die Pädagogik der Geistigbehinderten, die ja in Fragen der Förderung schwerstbehinderter Menschen besonders herausgefordert ist.
1. Gegenargument:
Anstötz stellt anläßlich der Referenz auf die Position Tooleys sein Anliegen so dar, als habe die deutschsprachige Heilpädagogik in Fragen einer ehtischen Fundamentierung, z.B. auch bezüglich des Rechts auf Leben oder des moralisch zu rechtfertigenden Tötens, einen besonderen Nachholbedarf und könne in der„internationalen Diskussion“ nicht mithalten. Das mag für die Frage der Diskussion über ethische Grundwerte seine Berechtigung haben. Speziell zur Frage der Tötung schwerstbehinderter Menschen bzw. des sogenannten Rechts auf Leben kann zumal die deutschsprachige Heil- und Sonderpädagogik dem Ausland seine Versagungen eindrucksvoll mitteilen.
Das Gegenteil ist eigentlich der Fall: Wenngleich sich die deutsche Erzie
hungswissenschaft erst in den siebziger
und achtziger Jahren ausführlicher mit dem Versagen der! Pädagogik während der NS-Zeit beschäftigt(vgl. Aurin 1983;
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XVI, Heft 4, 1990
Blankertz 1982; Möckel 1988), so hat insbesondere die praktische Hilfsschulpädagogik während der Zeit des Naziregimes leider nur in Teilen aus einer überzeugenden christlich-ehtischen‘ Grundeinstellung heraus, daß das Leben des geistigbehinderten Menschen unverletzlich und ein besonders schützenswertes Gut sei, gehandelt(vgl. Höck 1979, 178 f.). Doch das zählt wenig angesichts des allgemeinen Versagens.
Das Trauma des Versagens„während Auschwitz‘ und das Schuldeingeständnis„nach Auschwitz“ haben gerade im Hinblick auf Ethik und Moral— wenn auch spät und gegen Widerstände einer etablierten Sonderpädagogik(vgl. Meyer 1983, 114—115; vgl. Gers 1990)— dazu beigetragen, grundsätzlich Leben und Lernen für Behinderte unabhängig vom Grad und von der Schwere der Behinderung zu reklamieren. In Umkehrung der These von Anstötz, die deutschsprachige Heil- und Sonderpädagogik habe in Fragen der Ethik und Moral, also auch in Fragen des Legitimierens der Tötung Schwerstbehinderter, einen Nachholbedarf, hat eigentlich das Ausland speziell zu dieser Frage des Tötens behinderten Lebens einen Informationsbedarf bezüglich der Darstellung der Grundrechte auch des Schwerstbehinderten auf Leben und Lernen und der Gefährdung desselben durch ideologisch fixierte Wissenschaft und ihr nachgehende„Praxis‘“. Man muß die Parallelen auch sehen wollen. Das Nazi-Regime hat eigentlich nur praktiziert, was Theoretiker vorher im Namen von Wissenschaft und„Humanität“(vgl. Dörner 1989, 40 ff.) mit„rationalen‘“ Argumenten begründet und im Sinne des größeren Wohls der Mehrheit oder im wirtschaftlichen Interesse des Staates und der Volksgemeinschaft gefordert haben(vgl. Weber 1989, 4). Wiewohl sich Anstötz dagegen verwahrt, in der Nähe rassistischen Gedankenguts gerückt zu werden, während er mit seinen Gegnern speziell in dieser Hinsicht nicht gerade zimperlich umgeht‘(vgl. Anstötz 1990, 73, 114), so liegt doch der Vergleich auf der Hand:
Er vertritt— ob offen, ob verdeckt, aber mit einem gerüttelt Maß an Wohlwollen— die Thesen von Singer, Tooley
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