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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Sprachentwicklungsprobleme Leseprobleme Einführung in den Themenbereich

Von Hannelore Grimm

Die im Laufe der Sprachentwicklung zu leistenden Entwicklungsschritte und der in der Schule zu leistende Schriftsprach­erwerb sind für manche Kinder und be­kanntlich sind dies nicht wenige stör­anfällig und können damit zu großen und folgeschweren Problemen werden. Der von der Deutschen Forschungsge­meinschaft 1978 vorgelegte BerichtZur Lage der Legasthenieforschung ist Do­kument dafür, daß auch im deutschspra­chigen Raum eine bemerkenswert lange Tradition der Erforschung der Lese- und Rechtschreibschwäche besteht. Haben auch die zahlreichen empirischen Be­funde und die lebendigen, häufig kon­trovers geführten theoretischen Diskus­sionen unser Wissen über diese Schwäche beträchtlich vermehrt, so verhält es sich freilich nicht so, daß der Kenntnisstand schon so weit gediehen wäre, daß Dia­gnose und Prognose sowie Therapie er­folgversprechend durchgeführt werden könnten. Dafür ist der Gegenstandsbe­reich zu komplex. Die Feststellung, daß weitere Forschungsbemühungen notwen­dig sind, trifft in noch erhöhtem Maße auf das Problemfeld gestörter Sprachent­wicklung zu. Gerade im deutschsprachi­gen Raum hat die theoriegeleitete empi­rische Forschung erst in den letzten Jahren Auftrieb erhalten, so daß nach realistischer Einschätzung unser Kennt­nisstand noch als spürbar lückenhaft zu bezeichnen ist.

Im vorliegenden Themenheft sind neue theoretische und empirische Ergebnisse zur dysphasischen Sprachentwicklungs­störung und zur Lese-Rechtschreib­schwäche zusammengetragen. Bevor ich die einzelnen Arbeiten kurz kommen­tiere, scheint eine Bemerkung zum Be­griff der Entwicklungsdysphasie ange­bracht zu sein. In direkter Übersetzung der englischen Bezeichnungdevelop­mental dysphasia werden hierunter

Kinder gefaßt, bei denen der Sprach­erwerb verzögert einsetzt und die nach­folgende Sprachentwicklung verlang­samt und erschwert erfolgt. Dabei zei­gen die Kinder eine wenigstens durch­schnittliche nonverbale Testintelligenz und weisen weder eine Hörschädigung noch schwerere neurologische oder psy­chische Beeinträchtigungen auf. Häufig wird der Begriff der Entwicklungs­dysphasie zudem für diejenigen Kinder reserviert, bei denen Probleme mit der Sprachproduktion vorherrschend sind. Der interessante, aber eben auch sehr schwer zu verstehende Aspekt resultiert gerade aus der zweifachen Diskrepanz zwischen Intelligenz- und Sprachleistun­gen sowie zwischen der sprachlichen Ver­stehens- und Produktionsfähigkeit. Obgleich in letzter Zeit in der englisch­sprachigen Literatur der Begriffdevel­opmental dysphasia aus der Mode ge­kommen ist und u.a. durch den Begriff specific language impairment ersetzt wird, halte ich nach wie vor Entwick­lungsdysphasie für die klarste Bezeich­nung dieser Störung. Soweit ich sehen kann, ist diese von den folgenden wei­ter zu unterscheidenden Entwicklungs­störungen deutlich abgrenzbar: Von er­worbenen Aphasien, von Sprachentwick­lungsstörungen bei sensorischen Beein­trächtigungen, bei geistiger Behinderung sowie im Zusammenhang mit neuroti­schen oder psychotischen Störungen, von Sprachentwicklungsstörungen bei frühkindlichem Autismus, von Artikula­tionsstörungen der Dyslalie und Dys­arthrie sowie schließlich von der Rede­flußstörung des Stotterns.

Daß diese Abgrenzbarkeit indes nicht da­zu verführen sollte, die Entwicklungsdys­phasie als ein in sich einheitliches Stö­rungsbild aufzufassen, macht die erste Arbeit deutlich, in der fünf Subgruppen dysphasischer Kinder differenziert und

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989

beschrieben werden. In dem zweiten Bericht von Grimm und Weinert werden dann auf der Grundlage einer vergleichen­den Längsschnittstudie die folgenden drei Hauptergebnisse herausgestellt, die geeignet sind, die Art der sprachlichen Probleme sowie deren Ursachen etwas genauer zu verstehen: Die syntaktische Entwicklung dysphasischer Kinder ist nicht nur verzögert, sondern auch quali­tativ abweichend; diese defizitäre Ent­wicklung kann nicht kausal auf ein de­fizitäres mütterliches Sprachangebot zu­rückgeführt werden; vielmehr scheint es sich so zu verhalten, daß die defizitäre Syntaxentwicklung das Ergebnis einer unzureichenden Sprachverarbeitung dar­stellt. Daß die Sprachprobleme dyspha­sischer Kinder nicht auf den Erwerb satz-grammatischer Strukturen begrenzt sind, sondern sich auch auf der Ebene text-grammatischer Strukturen manife­stieren, zeigt die Arbeit von Weinert, Grimm, Delille und Scholten-Zitzewitz auf. Dabei vermögen die gegebenen Bei­spiele einen konkreten Eindruck darüber zu vermitteln, mit welchen Schwierigkei­ten sprachgestörte Schüler bzw. Schüle­rinnen beim Verstehen und bei der Wie­dergabe längerer sinnvoller Texte zu kämpfen haben. Daß Störungen der Sprachentwicklung im Vorschulalter sehr häufig Lese- und Rechtschreibschwächen nach sich ziehen, ist bekannt. Entspre­chend sind auch die folgenden drei Arbeiten diesem Thema gewidmet: Sko­wronek und Marx diskutieren phonolo­gische Verarbeitungsprozesse und Auf­merksamkeitsprozesse in ihrer Beziehung zum Lesenlernen und geben einen um­fassenden Einblick in ihre laufende Längsschnittstudie, deren wesentliches Ziel ist, mittels der theoriegeleiteten Aus­wahl von Prädiktoren Probleme bei der Aneignung von Lesen und Schreiben vorherzusagen. Daß der bisher als sehr

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