Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
4
Einzelbild herunterladen

Hannelore Grimm*

Entwicklungsdysphasie kein einheitliches Konstrukt

Tabelle 1: Drei Klassifikationssysteme sprachgestörter Kinder

Aram& Nation(1975)

Wolfus, Moscovitch& Kinsbourne(1980)

Wilson& Risucci(1986)

1) Repetition strength:

Gute phonologische und syntaktische Imitationsfähigkeit; gute phonologische Produktionsfähigkeit; unterschiedliche Leistungen in den anderen Bereichen.

2) Nonspecific formulation repetition deficit:

Minderleistungen bei allen Aufgaben mit besonderem syntaktischen/phonologischen Produktions/Imitationsdefizit.

3) Generalized low performance: Vergleichbar niedriges Leistungsniveau in allen Bereichen.

4) Phonologic comprehension formulation repetition deficit: Spezifischer Ausfall im phonologischen Bereich mit reduzierter syntaktischer Produktions /Imitationsfähigkeit.

5) Comprehension deficit: Schlechtere Leistungen beim Sprachverste­hen als bei der Sprachproduktion/imitation.

6) Formulation repetition deficit: Defizit der Produktion/Imitation in allen Bereichen/ nur im phonologischen Bereich.

1) Expressives: Defizite der Syntaxproduktion und der produktiven Phonologie.

2) Expressive receptives:

Defizite der Syntaxproduktion und

des Syntaxverstehens; semantische und phonologische Diskriminationsprobleme; geringere Kurzzeitgedächtnisspanne für Zahlen.

1) Expressive disorder: Unterdurchschnittliche Werte bei den Unter­tests ‚Verbale Flüssigkeit und ‚Verbales Gedächtnis.

2) Auditory memory and retrieval disorder: Unterdurchschnittliche Werte bei den Unter­tests ‚Verbale Flüssigkeit, ‚Verbales Gedächt­

.nis, ‚Auditorisch sequentielles Gedächtnis.

3) Receptive disorder: Unterdurchschnittliche Werte des auditorisch verbalen Faktors.

4) Global disorder: Unterdurchschnittliche Werte in den meisten Untertests.

weisen die unterschiedenen Sprachdefi­zitgruppen auf? Und welche kausalen Erklärungshypothesen lassen sich hieraus ableiten?

Anders ist nach Wilson& Risucci(1986) aber auch danach zu fragen, ob spezifi­sche Gruppen atypische evozierte Poten­tiale des Hirnstamms aufweisen, so daß deren Defizite auf der subkortikalen Ebe­ne zu lokalisieren sind.

Für die schulische Laufbahn ist weiter erforschbar, welche Kinder welche De­fizite im schulischen Bereich zeigen. Lei­den beispielsweise alle dysphasischen Kinder unter Leseschwierigkeiten oder sind nur manche Störungsmuster für Le­seschwierigkeiten prädiktiv? Und schließ­lich können die Effekte gruppenspezifi­scher Interventionsmethoden systema­tisch überprüft werden. Für den Prakti­ker oder Therapeuten ist es zurecht keine vernünftige Frage, ob eine Intervention überhaupt hilfreich ist, sondern die kri­tische Frage lautet, bei wem mit welcher Interventionsform die beste Wirkung er­zielt werden kann.

Die Beantwortung dieser Fragestellun­

4

gen muß so lange Zukunftsmusik blei­ben, so lange keine hinreichenden Klas­sifikationen vorliegen. Und dies scheint die gegenwärtige Forschungslage zu sein. Wie Wilson& Risucci(1986) richtig und lapidar feststellen, ist die Geschichte der systematischen Klassifikation sprachli­cher Entwicklungsstörungen kurz. Bezieht man die Untersuchung der Au­toren mit ein, so lassen sich lediglich drei auf standardisierten Daten basierende Klassifikationen unterscheiden. Diese sind in Tabelle1 zusammengefaßt ge­genübergestellt und sollen im folgenden kurz kritisch beleuchtet werden.

Aram& Nation publizierten 1975 das erste Klassifikationsschema. Als Stich­probe dienten 47 Kinder im Alter zwi­schen 3;2 und 6;11 Jahren mit der Dia­gnoseSprachstörung odersprach­liche Artikulationsstörung, wobei nicht erkenntlich wird, was darunter genauer zu verstehen ist. Die Kinder hatten keine Hörschwierigkeiten und wiesen keine Schädigungen des Sprechapparates auf. Als Untersuchungsmaterial dienten un­terschiedliche Tests, die den Autoren

zufolge die Verstehens- und die Produk­tionsfähigkeit im semantischen, syntak­tischen und phonologischen Bereich mes­sen sollen.

Eine faktorenanalytische Auswertung der standardisierten Testwerte führte zur Unterscheidung der dargestellten sechs Störungsmuster bei einer Varianz­aufklärung von 65%(vgl. Tabelle 1). Ver­mitteln diese Muster zunächst den Ein­druck der theoretischen und klinischen Nützlichkeit, so muß dieser bei einem zweiten und genaueren Hinsehen revi­diert werden: Ludlow(1980) stellt so zutreffend fest, daß die Benennungen der sechs Muster mehr versprechen als sie tatsächlich an Gehalt haben, da die ver­wendeten Tests lediglich Satzimitationen und das Benennen sowie die Wiederho­lung und das Verstehen einzelner Wörter abprüfen. Sie schreibt(a.a.O0., p. 156): The patterns only describe varying degrees of difficulty on simple tests; they do not contain measures of deviant language behaviors seen in children contained in each of these subgroups. Daß zudem die Muster-Differenzierung

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989