Hannelore Grimm* Entwicklungsdysphasie— kein einheitliches Konstrukt
auf quantitativ wackeligen Füßen steht, wird daran ersichtlich, daß den Mustern lediglich zwischen 11 und 4 Kindern zugewiesen sind, wobei noch die Muster 1 (N=10) und 6(N=5) zwei unterschiedliche Gruppen enthalten.
Dem Vorwurf der Überdifferenzierung müssen sich demgegenüber Wolfus, Moscovitch& Kinsbourne(1980) mit ihrer Einteilung in ein expressives und ein expressiv-rezeptives Defizit ganz sicherlich nicht stellen(vgl. Tabelle 1). Diese Einteilung basiert auf der Untersuchung von 15 Kindern im Alter zwischen 4;3 und 7;5 Jahren, die als spezifisch sprachgestört diagnostiziert waren. Da die verwendeten Testverfahren wiederum nur sehr eingeschränkt tauglich sind, das "Sprachverhalten zu untersuchen, stellt sich aber selbst diese einfache Unterteilung als nicht haltbar heraus. Die Begriffe„Syntaxproduktion‘“ oder„Syntaxverstehen“ sind ungerechtfertigt verwendet, so daß Wilson& Risucci(1986) nicht von ungefähr von„vaguely defined clinical inferences‘“ sprechen, auf denen die Einteilung basiere.
Von diesen Autoren stammt schließlich die dritte Typologie mit den in der Tabelle 1 beschriebenen vier Untergruppen. Untersucht wurden 93 Kinder im Alter zwischen 36 und 61 Monaten, die an einem Vorschulprogramm für Sprachentwicklungsgestörte teilnahmen und nach der oben gegebenen Definition als dysphasisch gelten können. Über die Vorgabe von 12 Untertests sollten die folgenden 5 Fähigkeitsbereiche untersucht werden: Auditorisch-kognitive Fähigkeit, auditives Gedächtnis, Abruf i.S. des Retrieval, visuell-kognitive Fähigkeit, visuelles Gedächtnis. Schon allein der Auflistung dieser Bereiche ist zu entnehmen, daß die Autoren wohl nicht beabsichtigt haben können, eine sprachentwicklungspathologisch relevante Kategorisierung vorzunehmen, weil die eigentlich interessante und auch klinisch wichtige Frage nach der Kovariation von unterschiedlichen sprachlichen mit den definierten Defiziten unbeantwortet bleibt. Der Aussagegehalt der aus Cluster-Analysen resultierenden Gruppen ist von daher nicht nur in theoretischer Hinsicht beschränkt.
Die Geschichte der Klassifikation von Sprachentwicklungsstörungen ist also nicht nur kurz und schnell erzählt, sondern auch inhaltlich unbefriedigend. Amorosa(1984) fordert daher für zukünftige Untersuchungen eine umfassende Datenerhebung unter Einschluß der folgenden Bereiche: Perzeption und Produktion im Bereich der Semantik, der Syntax und der Phonologie; Pragmatik; Artikulation, Phonation und Atmung; nichtsprachliche Mundmotorik; Gehör; nicht-verbale Intelligenz, auditives und visuelles Gedächtnis; neurologischer Befund; motorische Entwicklung; Verhaltensstörung und abnorme psychosoziale Umstände.„Jeder dieser Bereiche‘, so schreibt sie(a.a.O., p. 389),„sollte für jedes Kind unabhängig eingeschätzt werden. Eine solche Dokumentation könnte dazu beitragen, die Versuchsgruppen besser zu beschreiben und Unterschiede in den Ergebnissen experimenteller Untersuchungen zu erklären. Sie könnte aber auch im klinischen Alltag helfen, Zusammenhänge zwischen sprachlicher Leistung und den Faktoren, die zu dem Leistungsdefizit beitragen, deutlich zu machen.“
Diese Forderung, so verständlich sie auch vom klinischen Standpunkt aus zunächst erscheint, dürfte aus theoretischen und methodologischen Gründen doch noch verfrüht sein. Worauf, so ist zu fragen, beruht die Auswahl der Bereiche, die in die Datenerhebung einbezogen werden sollen? Welche theoretischen Überlegungen, gestützt durch welche empirischen Befunde, legen beispielsweise nahe, die motorische Entwicklung und das visuelle Gedächtnis zusammen mit den Bereichen der Syntax und der Semantik zu erfassen? Was würde argumentativ dagegen sprechen, anstelle dieser oder zusätzlich die rechnerische Leistungsfähigkeit oder die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit mit abzuprüfen? Mit Sicherheit würde man zwar Zusammenhänge zwischen den nichtsprachlichen Faktoren und den sprachlichen Leistungen herausfinden. Nur wäre es nicht allein unzulässig, sondern auch irreführend, daraus kausale Interpretationen abzuleiten. Um diejenigen Faktoren deutlich zu machen, die zu einem Sprachdefizit
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989
beitragen, bedarf es eines methodisch schrittweisen Vorgehens, das zugegebenermaßen mühseliger ist als die Erstellung riesiger Korrelationsmatrizen. Schließlich stellt sich damit das methodologische Problem, in welcher Weise die zu untersuchenden Faktoren eingeschätzt bzw. gemessen werden können. Sind die Maße, die wir haben oder notfalls erfinden müssen, hinreichend reliabel und valide, um theoretisch relevante und klinisch nützliche Aussagen machen zu können? Für die Bereiche der Pragmatik oder der abnormen psychosozialen Umstände, um nur diese zu nennen, dürfte die Antwort darauf wohl eher negativ ausfallen.
Wie läßt sich nun aber das Ziel einer Klassifikation sprachgestörter Kinder in valide homogene Subgruppen, die sich zudem als reliabel erweisen, erreichen? Wie schon gesagt, ist dafür nach meinem Verständnis ein schrittweises Vorgehen notwendig, wobei der erste Schritt darin bestehen sollte, auf der Basis von Sprachdaten nach typischen Profilmustern zu suchen, wobei diese Suche als die Entwicklung von Hypothesen zu begreifen ist, die weiter getestet und validiert werden können. Der zweite Schritt besteht dann in der Untersuchung, welche nichtsprachlichen Merkmale für die klassifizierten Kinder kennzeichnend sind. Von der Beschreibung sprachlicher Störungsmuster ausgehend, führt entsprechend so der Weg zu Erklärungshypothesen weiter.
„In fact“, schreibt Hempel(1965, pp. 139 —140),„the development of a scientific discipline may often be said to proceed from an initial‘natural history’ stage, which primarily seeks to describe the phenomenon under study and to establish simple empirical generalizations concerning them, to subsequent more and more‘theoretical’ stages, in which increasing emphasis is placed upon the attainment of comprehensive theoretical accounts of the empirical subject matter under investigation.‘“
Im folgenden soll der Versuch einer Klassifikation im Sinne des ersten Untersuchungsschrittes dargestellt werden. Die Daten basieren auf dem Heidelberger Sprachentwicklungstest(H-S-E-T;