Hannelore Grimm& Sabine Weinert- Mütterliche Sprache und Sprachverarbeitung dysphasischer Kinder
durch qualitativ andere Sprachfortschritte gekennzeichnet. Entsprechend stellen Crystal, Fletcher und Garman (1976, p. 28) fest, daß dann von einer abweichenden Sprachentwicklung auszugehen ist, wenn das Kind Sätze produziert, die weder den Normen der Erwachsenensprache entsprechen noch Teil der sich entwickelnden Grammatik normaler Kinder sind.
In der englischsprachigen Literatur scheint die Auffassung vorherrschend zu sein, daß die Sprachentwicklung dysphasischer Kinder lediglich verzögert in dem eben definierten Sinne ist. So stellt beispielsweise Leonard(1979, p- 212) in einem Überblicksartikel fest: „A close examination reveals that... the particular syntactic features evidenced in the speech of these(dysphasic) children are not unique to this population. Rather, these features seem to be the same as those used by younger normal children.‘ Stützt Leonard seine Schlußfolgerung auf spontane Sprachproduktionen, so scheinen auch Daten zum Imitationsverhalten in dieselbe Richtung zu weisen. Dies macht u.a. Menyuk (1978, p. 148) deutlich, wenn sie feststellt, daß(englischsprachige) dysphasische Kinder bei ihren unmittelbaren Imitationen keine spezifischen Probleme mit syntaktischen Wortstellungsregeln haben, d.h., daß sie keine Veränderungen vorgegebener Wortordnungen vornehmen. Interessanterweise können jedoch solche Veränderungen bei deutschsprachigen dysphasischen Kindern beobachtet werden. Das folgende Beispiel steht dafür, daß manchmal selbst sehr einfache Sätze in ihrer Wortstellung verändert werden (Grimm 1984): So wird der Satz„Der Lappen liegt unter dem Klotz“ als„Unter Klotz Lappen liegt‘ reproduziert. Falls sich zumindest bei deutschsprachigen dysphasischen Kindern entsprechende qualitative Probleme beim Erwerb syntaktischer Wortordnungsregeln empirisch zuverlässig nachweisen lassen, so stützt dies die Annahme, daß die dysphasische Entwicklungsstörung als ein reines Verzögerungsphänomen wohl nicht zureichend charakterisiert ist.
Mit der zweiten Untersuchungsfrage, ob die Sprachdefizite dysphasischer Kinder
16
kausal auf spezifische strukturelle und interaktionale Merkmale des mütterlichen Sprachangebots zurückgeführt werden können, knüpfen wir direkt an die Tradition der sogenannten„Motherese“‘Forschung an. Denn aus dem Befund, daß zwischen einigen Merkmalen der mütterlichen Sprache und der normalen kindlichen Sprachentwicklung ein positiver Zusammenhang besteht(Hoff-Ginsberg 1985; Hoff-Ginsberg& Shatz 1982), läßt sich die Annahme ableiten, daß die gestörte Sprachentwicklung durch bestimmte Merkmale der mütterlichen Sprache mitbestimmt ist. Spezifischer formuliert sollen die beiden folgenden Hypothesen überprüft werden: Erstens, daß die Mütter der dysphasischen Kinder(im folgenden: D-Mütter) ein unterschiedliches oder weniger geeignetes Sprachmodell für den Erwerb variabler Satzmuster anbieten als diejenigen Mütter, deren Kinder keine Sprachauffälligkeiten zeigen(im folgenden: N-Mütter). Konkret wird entsprechend erwartet, daß sich die D-Mütter von den N-Müttern in der Häufigkeit, der Variabilität und der Komplexität der verwendeten Satzmuster unterscheiden. Und die zweite Hypothese lautet, daß die D-Mütter— wieder im Vergleich zu den N-Müttern— einen geringeren Gebrauch von Sprachlehrstrategien wie Expansionen, Transformationen, Imitationen und Korrekturen machen. Durch diese Strategien erhalten die Kinder direkte Rückmeldungen über die Korrektheit ihrer eigenen Sprachproduktionen; dabei dienen Wiederholungen der Bestätigung, wohingegen den Kindern mittels Korrekturen, Expansionen oder Transformationen mögliche strukturelle Veränderungen ihrer eigenen(meist) unvollständigen Äußerungen demonstriert werden. Gerade die Illustration syntaktischer Veränderungen in unmittelbar aufeinander folgenden Äußerungen ist in besonderem Maße geeignet, strukturelle Merkmale der Sprache zu verdeutlichen und variable Satzmuster zu vermitteln(vgl. hierzu: Hoff-Ginsberg 1985). Je weniger die Mütter von diesen Strategien Gebrauch machen, desto geringer erweist sich demnach die Möglichkeit für die Kinder, durch den Vergleich ihrer eigenen mit den unmittelbar darauf zurück
gegebenen Sätzen über die Struktur von Sätzen zu lernen.
Nach unserer Kenntnis sind beide Hypothesen bislang noch nicht ausreichend überprüft worden; die wenigen Untersuchungen zur vergleichenden Analyse von Interaktionsmustern in Dyaden mit normalen und dysphasischen Kindern sind vornehmlich mit dem kommunikativen Aspekt der Sprache befaßt(z.B. Gallagher& Darnton 1978).
Und zu unserer dritten Untersuchungsfrage liegen überhaupt noch keine einschlägigen Forschungsarbeiten vor. Wir können daher keine spezifische Hypothese bilden, sondern wollen vielmehr von der plausiblen Überlegung ausgehen, daß, wenn dysphasische Kinder abweichende Satzformen bilden, diesen dann auch Erwerbsprozesse zugrundeliegen sollten, die mit den Erwerbsprozessen normaler Kinder nicht identisch sind. Spezifischer formuliert nehmen wir an, daß die dysphasischen Kinder in geringerer und/oder anderer Weise strukturelle Einheiten aus der mütterlichen Modellsprache aufnehmen und produktiv nutzen.
Die Daten, die im folgenden berichtet werden, wurden im Rahmen eines von der DFG geförderten Forschungsprojektes(Az.: Gr 588/6—6) erhoben. Ein Teil der Daten wurde von Grimm schon an anderen Orten dargestellt(u.a. Grimm 1984, 1986a, b, 1987).
Methode Die untersuchten Kinder
Die zu berichtenden Daten stammen von 16 Kindern, die im Rahmen eines großen Forschungsprojekts zur sprachlichen und kognitiven Entwicklung untersucht worden sind(Grimm 1983, 1986). Alle Kinder stammen aus monolingual deutschsprechenden Familien. Acht der Kinder, die als sprachentwicklungsgestört diagnostiziert waren, wiesen zu Beginn der längsschnittlichen Beobachtung ein durchschnittliches Alter von 4;2 Jahren auf (Bereich: 3;9—4;8 Jahre; 6 Jungen und 2 Mädchen). Nach Auskunft der Eltern zeigten alle acht Kinder einen deutlich
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989