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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hannelore Grimm& Sabine Weinert- Mütterliche Sprache und Sprachverarbeitung dysphasischer Kinder 4

Tabelle 3: Durchschnittliche Anzahl der Konstituenten pro Satz(Mittelwerte und Bereich).

jüngeren Kontrollkindern gebildeten Sät­ze mit Subjekt- oder Verb-Endstellung waren sehr kurz und morphologisch un­ausgearbeitet. Es handelt sich dabei um Sätze, die ganz typisch für noch jüngere Kinder sind, die sich in der Zweiwort­und Dreiwortphase ihrer Sprachentwick­lung befinden. Im Gegensatz dazu wa­ren die Sätze mit Subjekt- oder Verb­Endstellung der dysphasischen Kinder signifikant länger und morphologisch komplexer(vgl. Tabelle 3). Sie stellen da­mit solche Satzformen dar und dies ist der springende Punkt, die völlig un­typisch für die frühe Zweiwort- und Drei­wortphase als einer Entwicklungszwi­schenstufe sind, die alle normalen Kin­der durchlaufen.

Diesen wichtigen Unterschied in der Satzqualität vermögen die Beispiele zu verdeutlichen, die in der Tabelle 4 auf­gelistet sind.

Vergleicht man die Satzbeispiele, so fällt auf, daß die dysphasischen Kinder das Hilfsverb zusammen mit dem Verb ans Satzende stellen und auch dazu neigen, Verb und Präfix falsch zu plazieren. Demgegenüber erscheinen die Sätze der jüngeren Kontrollkinder als schlicht un­vollständig. Stellt man diesen u.a.Ich will voran, so werden sie zu korrekten Sätzen. Ein Erwachsener, der zu einem kleinen Kind in kindlicher Sprache dem sog.baby talk, spricht, würde so auch die unvollständigen Sätze der Kontroll­kinder, nicht aber die falschen Sätze der dysphasischen Kinder verwenden.

Zur ersten Frage läßt sich also zusammen­fassend festhalten, daß normale und dys­phasische Kinder, die nach ihrem Sprach­entwicklungsstand parallelisiert wurden, deutliche Unterschiede in ihren Satzpro­duktionen zeigten. Mehr als S0% der von den dysphasischen Kindern produ­zierten Sätze wichen sowohl von der Standardsprache wie auch von Satzfor­men ab, die für eine frühe Zwischenstufe der Sprachentwicklung typisch sind. Kommen wir nun zur zweiten Frage des weiteren Verlaufs der Syntaxentwick­lung. In der Abbildung 1 ist dargestellt, in welchem Umfang der Anteil inkorrek­ter Sätze mit Subjekt- oder Verb-Endstel­lung an allen Sätzen innerhalb eines Jah­res abgenommen hat.

dysphasische normale Kinder Kinder Sätze mit*# Verb/Subjekt- 300 A 2.90 Endstellung(3.46-4.43)(2.32-3.47) ; ı Ds|#* | l andere| ns' Sätze 3.81 00= 4.02 (3.00-4.79)(3.59-4.69)

Vergleich unabhängiger Stichproben: Mann-Whitney U-Test, zweiseitig. Vergleich abhängiger Stichproben: Wilcoxon-Test für Paardifferenzen, zweiseitig.

** p<.01. ns: nicht signifikant(p>.10).

Tabelle 4: Beispiele abweichender Sätze mit Verbendstellung.

dysphasische Kinder

normale Kinder

ein Boot Wasser nehmt ham Eine Brust ich sehn hab

ich das guck an will

bißchen spielen ein großes Haus machen

der soll drehen

Diese Abnahme dient hier als Indikator für die Syntaxentwicklung. Um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewinnen, wurden die Kinder mit besserem Aus­gangsniveau(C, D) von den Kindern mit schlechterem Ausgangsniveau getrennt. Bei einem ersten Blick in die Abbildung imponiert, daß die Entwicklungsverläufe der jüngeren Kontrollkinder sehr viel ho­mogener als die Verläufe der dysphasi­schen Kinder sind: Die normalen Kin­der mit schlechterem Ausgangsniveau machten so schnelle Sprachfortschritte, daß sie innerhalb von nur 4 Monaten die Kinder mit dem besseren Ausgangsniveau eingeholt hatten. Und dies bedeutet, daß innerhalb eines kurzen Zeitraumes alle Kontrollkinder ihre unvollständigen Sätze bis auf ein Mindestmaß abgebaut hatten. Eine vergleichsweise schnelle Re­duktion ihrer Sätze mit falscher Wort­stellung konnten demgegenüber nur zwei der dysphasischen Kinder(1,8) vorneh­men. Dreien dieser Kinder(5,6, 7) war

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989

es selbst nicht möglich, innerhalb eines Jahres den Anteil ihrer falschen Satzfor­men auf einnormales Niveau zu redu­zieren. Im Alter von 5 Jahren hatten sie demnach noch nicht den syntaktischen Entwicklungsstand eines normalen drei­jährigen Kindes erreicht.

Insgesamt kann also gelten, daß die Sprachfortschritte der dysphasischen Kinder nicht nur weniger homogen, son­dern auch deutlich langsamer als die Fort­schritte der Kontrollkinder waren. Dieser langsamere Sprachfortschritt läßt sich ergänzend an zwei weiteren längs­schnittlichen Befunden festmachen: Im Vergleich zu den Kontrollkindern zeig­ten die dysphasischen Kinder eine signi­fikant geringere Zunahme der durch­schnittlichen Verbkomplexität(z=2.10; p<.05) und eine numerisch(statistisch nicht signifikant) geringere Zunahme der durchschnittlichen Komplexität der No­minalphrasen sowie der durchschnittli­chen Anzahl der Wörter pro Satz.

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