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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hannelore Grimm& Sabine Weinert- Mütterliche Sprache und Sprachverarbeitung dysphasischer Kinder

der im Normalbereich; bei den darauf­folgenden Untersuchungen nahmen dann jedoch die Standardwerte ganz erheb­lich ab.

Zusammengefaßt vermögen diese Daten einen klärenden Beitrag zu der Kontro­verse zu leisten, ob die Entwicklungs­dysphasie allein eine Sprachverzögerung oder auch eine Sprachabweichung dar­stellt(Menyuk 1964; Leonard 1972). Ei­nerseits ist es richtig, die Entwicklungs­dysphasie als Verzögerung zu charakte­risieren. Dafür sprechen die folgenden zwei Befunde:(1) Alle dysphasischen Kinder der Untersuchung begannen erst relativ spät die Sprache zu erwerben. (2) Und alle Kinder machten langsamere Sprachfortschritte als die jüngeren Kon­trollkinder.

Andererseits und dies ist besonders wichtig muß die dysphasische Ent­wicklungsstörung auch als eine qualita­tive Abweichung von der normalen Sprachentwicklung charakterisiert wer­den, da mehr als S0% der von den dys­phasischen Kindern produzierten Sätze eine typische Form aufweisen, die nicht charakteristisch für den Sprachgebrauch jüngerer Kinder ist.

Weiter haben wir in der vorliegenden Untersuchung gezeigt(vgl. auch: Grimm 1987), daß die Sprachdefizite dyspha­sischer Kinder nicht auf strukturelle Merkmale der mütterlichen Sprache zu­rückgeführt werden können. Die Spra­che der D-Mütter ist in nicht geringerer Weise als die Sprache der N-Mütter für den Erwerb variabler Satzmuster geeig­net. Und dennoch produzieren die dysphasischen Kinder vorwiegend Sätze, die nur einer einzigen Wortordnung fol­gen. Bevor wir eine mögliche Ursache dafür diskutieren, sollen zuvor noch zwei Punkte betont werden, um mög­liche Mißverständnisse zu vermeiden. Zum einen wird mit dem bisher Gesag­ten nicht behauptet, daß die Qualität des Sprachangebots generell keinen Ein­

Literaturverzeichnis

Crystal, D., Fletcher, P.& Garman, M.(1976). The grammatical analysis of language disability: A procedure for assessment and

remediation. London: Arnold.

fluß auf den Spracherwerb hätte. Um was es hier allein geht, ist die Tatsache, daß Unterschiede zwischen dysphasi­schen und normalen Vorschulkindern nicht durch Unterschiede in der forma­len Qualität des mütterlichen Sprachan­gebots erklärt werden können. Man könnte die Hypothese bilden, daß normale Sprachlernmöglichkeiten für dysphasische Kinder nicht ausreichend sind. Und man könnte diese Hypothese in der Weise überprüfen, daß man fest­stellt, ob ein angereichertes Sprachan­gebot die Spracherwerbsprobleme der Kinder wenigstens teilweise zu kompen­sieren vermag.

Und zweitens ist zu betonen, daß wir zuvor zeigen konnten, daß die Mütter keine Unterschiede in ihren syntakti­schen Sprachmerkmalen und in ihren Sprachlehrstrategien aufweisen; hieraus kann jedoch in keinem Fall auf andere Merkmale der Kommunikation geschlos­sen werden. Tatsächlich hat Grimm (1986 a) an anderer Stelle berichtet, daß sich die kommunikative Qualität der Dialoge mit dysphasischen und norma­len Kindern unterscheidet: So erschei­nen beispielsweise diedysphasischen Dialoge inkohärenter, da die themati­schen Sequenzen kürzer sind und häufig durch die Mütter initiiert werden. Es ist indes sehr schwierig, wenn nicht unmög­lich, zwischen solchen kommunikativen Merkmalen und der syntaktischen Ent­wicklung eine direkte Beziehung her­zustellen. Wie wollte man theoretisch stringent kürzere thematische Sequen­zen oder auch häufiges Frageverhalten und andere Indikatoren der kommuni­kativen Qualität mit den spezifisch ab­weichenden Satzformen der dysphasi­schen Kinder in einen erklärenden Zu­sammenhang bringen?

Nicht nur vernünftiger, sondern auch theoretisch weiterführend ist vielmehr die Überlegung, daß die abweichenden Sprachstrukturen das Ergebnis einer un­

zureichenden Sprachverarbeitung dar­stellen. Wie ausgeführt, machen die dysphasischen Kinder nur selten von ganzheitlichen Verarbeitungsstrategien Gebrauch und beschränken sich statt­dessen darauf, aus dem Sprachangebot nur einzelne Wörter oder Phrasen aufzu­nehmen. Dies könnte sie daran hindern, längere Spracheinheiten im Sinne von internal repräsentierten Modellen zu speichern und zu nutzen. An anderer Stelle hat Grimm(1986a, 1987) eine Zwei-Stufen-Theorie des Spracherwerbs vorgeschlagen und dabei angenommen, daß diese internalen Modelle den Aus­gangspunkt für die Induktion strukturel­ler Regeln bilden. Das Kind übernimmt und memoriert zunächst längere Sprach­einheiten, ohne daß es deren Struktur schon verstanden hätte. Durch den Ver­gleich verschiedener Spracheinheiten erkennt es dann Kovariationsmuster in dem Sinne, daß sprachliche Einheiten bestimmte Positionen einnehmen, und daß diese Positionen durch unterschied­liche Wörter ausgefüllt werden können. Und dieses Wissen stellt die Eingabe für die analytische Tätigkeit dar, die in der Induktion von syntaktischen Kategorien und syntaktischen Wortordnungsregeln besteht. Wenn auch dieses Modell noch sehr vage formuliert ist, so werden doch die Implikationen für das Verständnis der dysphasischen Sprachstörung deut­lich. Die Tatsache, daß die dysphasi­schen Kinder die mütterliche Sprache kaum ganzheitlich verarbeiten, ist im Sinne eines Produktionsdefizits zu inter­pretieren. Und dieses Produktionsdefizit wird als verantwortlich für die syntak­tisch defiziente Entwicklung gesehen. Sollte sich diese überprüfbare Annahme als richtig herausstellen, so wäre dies gleichzeitig ein sehr starkes Argument für diejenige Annahme, daß das ganzheit­liche Lernen eine notwendige Voraus­setzung für einen normal verlaufenden Syntaxerwerb darstellt.

Gallagher, T.M.& Darnton, B.A.(1978). Conversational aspects of the speech of language-disordered children: Revision behaviors.

Journal of Speech and Hearing Research, 21, 118-135.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989

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