Was macht sprachgestörten Kindern das Textverstehen so schwer?
Von Sabine Weinert, Hannelore Grimm, Gabriele Delille und Reinhild Scholten-Zitzewitz
Berichtet wird über eine vergleichende Untersuchung der Fähigkeit dysphasisch-sprachgestörter und sprachunauffälliger Schulkinder, längere sinnvolle Texte zu verstehen und wiederzugeben. Die Daten stützen die Hypothese, daß dysphasische Kinder spezifische Probleme bei der Nutzung komplexer hierarchischer Textstrukturen aufweisen: Ein Vergleich der Reproduktionsleistungen bei unterschiedlich strukturierten Geschichten zeigt, daß dysphasische Kinder(a) erhebliche Schwierigkeiten haben, die zentralen Inhalte von Geschichten wiederzugeben, die aus relativ unverbundenen Einzelhandlungen bestehen und daß sie (b)— im Gegensatz zu sprachunauffälligen Kindern— auch dann sehr geringe Reproduktionsleistungen aufweisen, wenn die in der Geschichte enthaltenen InFormationen durch einen hierarchischen Handlungszusammenhang verbunden sind.
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The study is concerned with a comparative analysis of the ability of dysphasic and normal school children to understand and reproduce stories. The data are in support of the hypothesis that dysphasic children have problems using hierarchical story structures to improve their recall performance. When given stories of varying structural coherence, the dysphasics demonstrated difficulties in recalling relatively independent story events and showed little or no improvement when the actions given in the stories were connected by a coherent hierarchical story structure.
In der vorliegenden Arbeit berichten wir über eine vergleichende Untersuchung der Fähigkeit dysphasisch-sprachgestörter und sprachunauffälliger Schulkinder, längere sinnvolle Texte zu verstehen und wiederzugeben. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie gravierend die Probleme dysphasischer Kinder bei der Verarbeitung von Texten sind, sondern vor allem auch darum, was eigentlich dysphasischen Kindern das Textverstehen so schwer macht.
Diese Fragestellungen sind insbesondere von praktisch-pädagogischem Interesse, denn ein Großteil unseres Wissens wird nicht durch unmittelbare Erfahrung, sondern durch sprachliche Informationen— geschriebener oder gesprochener Art— erworben. Vor allem im schulischen Bereich spielt die Unterrichtung durch Texte eine wichtige Rolle, indem die Vermittlung von Informationen vor
wiegend über mündliche Texte durch den Lehrer oder über schriftliche Lehrtexte erfolgt. Aber auch große Teile unseres Alltagswissens beziehen wir aus Rundfunk-, Fernseh- oder Zeitungstexten oder aus Unterhaltungen.
Unterstreichen bereits diese Überlegungen die weitreichenden Konsequenzen, die aus Problemen/Defiziten bei der Verarbeitung von Texten resultieren können, so erscheinen sie noch offenkundiger, wenn man zudem die kumulativen Effekte inadäquater Verstehens- und Behaltensprozesse in Betracht zieht: Während nämlich einerseits Textverarbeitung zentral für den Wissenserwerb im allgemeinen und schulisches Lernen im besonderen ist, erweist sich andererseits das Wissen wiederum als wichtige Determinante der Textverarbeitung(z.B. Körkel 1987). Denn erst unter Einsatz bereits vorhandenen Wissens können die Aussa
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989
gen eines neuen Textes sinnvoll interpretiert und angemessen aufeinander bezogen werden(vgl. u.a. Mandl 1981). Probleme bei der Textverarbeitung können entsprechend in einen Teufelskreis sich aufschaukelnder Wissens- und Lerndefizite münden, so daß kompensatorische Maßnahmen unbedingt erforderlich erscheinen. Eine gezielte Intervention ist aber nur dann möglich, wenn man sehr spezifische Annahmen darüber hat, was eine angemessene Textrezeption erschwert oder verhindert.
Neben der praktisch-pädagogischen Bedeutung ist die Untersuchung satzübergreifender Verarbeitungsprobleme bei dysphasischen Kindern aber auch theoretisch interessant, weil sie zugleich einen Beitrag zur genaueren empirischen Analyse des dysphasischen Störungsbildes leistet. Kennzeichnend für die dysphasische Sprachstörung ist zunächst
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