eine deutliche Diskrepanz zwischen nonverbaler Testintelligenz und sprachlicher Fähigkeit: Bei durchschnittlichen oder selbst bei überdurchschnittlichen nichtverbalen Intelligenztestleistungen weisen die dysphasisch-sprachgestörten Kinder erhebliche Probleme beim Erwerb sprachlicher— insbesondere grammatischer— Strukturen auf, die zudem weder auf schwere neurologische Beeinträchtigungen oder Hörschäden noch auf emotionale Störungen oder soziale Umweltfaktoren direkt zurückgeführt werden können (z.B. Benton 1964). Das Fehlen ‚offenkundiger‘ Ursachen einerseits sowie die Tatsache, daß nicht alle Sprachkomponenten gleichermaßen betroffen sind andererseits, werfen die Frage nach der Spezifität der sprachlichen Defizite auf: Sind die Sprachprobleme dysphasischer Kinder auf den Erwerb ‚satz-grammatischer‘ Strukturen begrenzt, oder zeigen sie sich auch auf der Ebene ‚text-grammatischer‘ Strukturen? Anders gefragt: Weisen die Kinder Probleme bei der Verarbeitung und Reproduktion größerer sprachlicher Einheiten(Texte) auf, die sich nicht einfach auf ihre Schwierigkeiten bei der Verarbeitung und Reproduktion komplexer Satzstrukturen zurückführen lassen, die also auch dann bestehen bleiben, wenn die satzstrukturelle Komplexität der Texte ihre sprachliche Kompetenz nicht überschreitet? Und wenn dies der Fall ist: Welcher Art sind diese Probleme? Um gezielte Hypothesen über mögliche Arten satzübergreifender Verarbeitungsprobleme entwickeln zu können, ist es sinnvoll, zunächst einige relevante Anforderungen zu diskutieren, die an einen Textrezipienten gestellt werden. Das Verstehen eines Textes erfordert, daß— unter den Restriktionen eines kapazitätsbegrenzten Kurzzeitgedächtnisses— aus einer zeitlich geordneten Abfolge von Informationen eine hierarchisch-strukturierte mentale Repräsentation der im Text enthaltenen Inhalte aufgebaut wird, die dann bei einer Reproduktion/Rekonstruktion wieder in eine sinnvolle zeitliche Ordnung rückübersetzt werden kann. Dies impliziert eine ganzheitliche, ‚gestaltorientierte‘ Informationsverarbeitung in dem Sinne, daß die einzelnen Aussagen aufeinander bezogen werden
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Sabine Weinert et al.- Was macht sprachgestörten Kindern das Textverstehen so schwer?
müssen, so daß eine ‚gestaltete Gliederung des Ganzen‘ resultiert(vgl. Obrig 1934/1969; Wimmer 1982).
Der Aufbau einer solchen integrierten, kohärenten Gedächtnisrepräsentation wird dabei sowohl durch themenrelevantes inhaltliches als auch durch strukturelles Vorwissen erleichtert. Mit strukturellem Wissen ist u.a. das Wissen über den typischen Aufbau und die Struktur verschiedener Textsorten(wissenschaftlicher Text, Zeitungsartikel, Märchen,...) gemeint. Entsprechendes Wissen ermöglicht es dem Textrezipienten, Erwartungen über Informationseinheiten, ihre Abfolge und Verknüpfung zu generieren und erleichtert so die Rekodierung einzelner Informationen in satzübergreifende funktionale Einheiten. Bei der Wiedergabe eines Textes kann es zudem als Abrufplan genutzt werden (Mandler& Johnson 1977). Die Bedeutung konventioneller, hierarchischer Zusammenhangsmuster für das Verstehen und Behalten wurde insbesondere für die Textsorte ‚Geschichten‘ empirisch nachgewiesen. Die hierarchische Struktur einer ‚typischen‘ Geschichte läßt sich vorwiegend auf den hierarchischen Charakter von Handlungsstrukturen zurückführen; denn Geschichten sind dadurch gekennzeichnet, daß sie den Ausgangspunkt, Verlauf und Ausgang von mehr oder weniger erfolgreichen Zielerreichungs- und Problemlöseversuchen einer oder mehrerer Personen darstellen. Beim Verstehen einer Geschichte müssen die einzelnen geschilderten Handlungen und Subziele des/der Protagonisten in Beziehung zu einem oder mehreren übergeordneten Hauptziel(en) interpretiert und in eine ganzheitliche, hierarchisch organisierte Zielplanstruktur eingeordnet werden; ist dies nicht möglich, weil der Text es nicht zuläßt oder der Rezipient hierzu nicht in der Lage ist, so zerfällt der Text in eine Folge von Einzelhandlungen, die lediglich durch zeitliche ‚und dann‘— Verbindungen und evtl. durch gemeinsame Protagonisten verknüpft sind und entsprechend in geringerem Maße ein strukturiertes, kohärentes Ganzes bilden. Die Bedeutung der strukturellen Kohärenz für Behaltensleistungen zeigt insbesondere eine entwick
lungspsychologische Untersuchung von Wimmer(1982), die zugleich einen überzeugenden Beleg dafür darstellt, daß bereits Kinder im Alter von 4 Jahren in der Lage sind, komplexe hierarchische Handlungsstrukturen zu verstehen und bei der Wiedergabe zu nutzen.
Wimmer(1982, Exp. 5, 6, 7) erhob die Wiedergabeleistungen von Kindern in Abhängigkeit von der strukturellen Kohärenz der vorgegebenen Geschichte. Diese lag entsprechend in zwei Versionen vor— einmal mit ‚kohärenter‘ und einmal mit ‚inkohärenter‘ Geschichtenstruktur. Die kohärente Version ist durch eine komplexe hierarchische Handlungsstruktur gekennzeichnet: Ein Bauer versucht trotz verschiedener Widerstände seinen Esel in den Stall zu bekommen; hierzu muß er schrittweise instrumentelle Unterziele etablieren(z.B. der Hund soll bellen, damit der Esel erschrickt; die Katze soll den Hund beißen, damit der Hund bellt usw.). Jedes Unterziel dient der Erreichung des zuvor angestrebten hierarchie-höheren Ziels. Dies gilt nicht für die inkohärente Version der Geschichte. Diese besteht zwar weitgehend aus den gleichen Sätzen wie die kohärente Version; durch Auslassung des Hauptziels und des wichtigsten instrumentellen Unterziels sowie durch Umordnung der einzelnen Handlungen erreicht Wimmer jedoch, daß diese nur noch durch eine zeitliche ‚und dann‘— Relation verknüpft sind.
Die Wiedergabedaten belegen, daß insbesondere die 6- und 8-jährigen Kinder die kohärente Version erheblich besser reproduzierten als die inkohärente; übersteigt die kohärente Version ein bestimmtes Maß an Komplexität nicht, so gilt dies sogar für die 4-jährigen Kinder. Daß dieses Ergebnis tatsächlich auf das Verständnis der Zusammenhänge zurückgeführt werden kann, zeigt sich darin, daß die Reproduktionsleistungen zwar mit der Anzahl beantworteter ‚Warum-Fragen‘, nicht aber mit der Anzahl beantworteter ‚Wer- oder Wen-Fragen‘ kovarlierten.
Während zahlreiche entwicklungspsychologische Untersuchungen— in Einklang mit den Befunden von Wimmer (1982)— eindrucksvoll die Kompetenz sprachunauffälliger Kinder demonstrieren, inhaltliche Zusammenhangsstrukturen bei der Textverarbeitung zu verstehen und bei der Wiedergabe zu nutzen (vgl. z.B. Glowalla 1983; Mandler& Johnson 1977; Stein& Glenn 1979; Weinert
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989