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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Sabine Weinert et al.+ Was macht sprachgestörten Kindern das Textverstehen so schwer?

1988), lassen theoretische Überlegungen wie empirische Daten vermuten, daß dies nicht in gleichem Maße für dysphasisch­sprachgestörte Kinder gilt. Zum einen weisen nämlich zahlreiche empirische Untersuchungen der letzten Jahre darauf hin, daß dysphasische Kinder selbst bei normalen non-verbalen Intelligenz­testleistungen eine Reihe spezifischer kognitiver Defizite aufweisen, die teil­weise konkrete Annahmen über Proble­me bei der Verarbeitung längerer Texte erlauben; dies gilt(a) für Defizite im Be­reich des Kurzzeitgedächtnisses(z.B. Kirchner& Klatzky 1985; Menyuk& Looney 1972),(b) für Defizite in der hierarchischen Strukturierungsfähigkeit (z.B. Cromer 1978),(c) für Probleme im Bereich ganzheitlicher, gestaltorien­tierter Informationsverarbeitung(z.B. Grimm 1986; Kracke 1975) sowie(d) für Probleme bei der Erfassung und Re­konstruktion zeitlicher Ordnungen(z.B. Tallal& Piercy 1978).

Zum anderen liegen bereits einige Stu­dien vor, die darauf hindeuten, daß dysphasische Kinder auch satzübergrei­fende Sprachprobleme aufweisen. So fand beispielsweise Liles(1985), daß die von ihr untersuchten sprachgestörten Kinder(Alter: 7;0610;06) im Vergleich zu einer altersparallelisierten Kontroll­gruppe weniger gut in der Lage waren, in­haltliche Fragen zu einem längeren Film zu beantworten; dies galt allerdings nur, wenn es sich um Zusammenhangsfragen

handelte, nicht aber für Fragen nach ein-_

zelnen Fakten. Auch produzierten die sprachgestörten Kinder bei einer Nach­erzählung der Filmgeschichte vergleichs­weise weniger Aussagen, die zudem häu­figer durch unvollständige oder fehler­hafte Kohäsionsverbindungen verknüpft waren(z.B. im Sinne von fehlender oder uneindeutiger Referenz). Probleme bei der Nutzung struktureller Zusammen­hangsinformationen vermutet auch Gray­beal(1981). Er verglich die Geschichten­reproduktionen von 12 dysphasischen und 12 altersgleichen sprachunauffälligen Kindern(Alter: 79 Jahre). Obgleich sichergestellt wurde, daß die dysphasi­schen Kinder in der Lage waren, die ein­zelnen Sätze der Geschichten zu verste­hen, zeigten sie erheblich geringere Wie­

dergabeleistungen als die Kontrollkin­der. Dieser Unterschied blieb auch dann erhalten, als die Wiedergaben von 3 sprachgestörten und 3 jüngeren Kon­trollkindern(parallelisiert nach den Lei­stungen in einer Satzimitationsaufgabe) verglichen wurden. Das Wiedergabemu­ster und die temporale Ordnung der Re­produktionen unterschieden sich hinge­gen nicht zwischen den beiden Gruppen. Als eine mögliche Ursache für die Wie­dergabeprobleme der dysphasischen Kin­der formuliert Graybeal(1981, 281): The problem may lie in poor initial encoding and/or retrieval failure, perhaps due to ineffective use of memory strate­gies for the gist recall task. Such a strategy might involve using ones knowledge of story structure to recognize and encode the most important information and to develop a systematic plan for retrieval. Da Graybeal jedoch nur strukturierte Geschichten verwendete, erlauben seine Daten natürlich keinen Rückschluß auf spezifische Effekte der Strukturnutzung. In der folgenden Untersuchung geht es daher um die Frage, ob dysphasische Kinder spezifische hierarchisch-struktu­relle Probleme oberhalb der Satzebene aufweisen. Dabei erscheint es sinnvoll, dem experimentellen Vorgehen von Wim­mer(1982) zu folgen und die Repro­duktionsleistungen in Abhängigkeit von der strukturellen Kohärenz des Textes zu erfassen. Falls sich nämlich die Schwierig­keiten bei der Verarbeitung/Reproduk­tion von Texten zurückführen lassen auf spezifische Defizite im Bereich der hie­rarchischen Strukturierungsfähigkeit und der ganzheitlichen, gestaltorientierten In­formationsverarbeitung, so sollten die dysphasischen Kinder das hierarchische Zusammenhangsmuster der ‚kohären­ten Textversion nicht nutzen können; entsprechend wird erwartet, daß sich ihre Wiedergabeleistungen bei kohären­ter und inkohärenter Geschichtenversion nicht unterscheiden, insbesondere bei der kohärenten Geschichtenversion aber signifikant unter denjenigen einer alters­vergleichbaren Kontrollgruppe liegen. Defizite im Bereich des Kurzzeitge­dächtnisses lassen zudem Probleme bei der Reproduktion der ‚inkohärenten Version erwarten, bei der viele relativ

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989

lose verbundene Informationen gespei­chert und erinnert werden müssen.

Methode Beschreibung der Stichproben

16 dysphasische und 16 altersgleiche Kin­der ohne Sprachprobleme(je 14 Jungen und 2 Mädchen) wurden vergleichend un­tersucht. Die dysphasisch-sprachgestör­ten Kinder besuchten Sonderschulen für Sprachbehinderte(Primarstufe: Ein­gangsklasse, 1. Klasse oder 2. Klasse) und wurden von den Schulleitern/Fachleh­rern als mittel bis stark dysgrammatisch und sprachentwicklungsverzögert einge­stuft. Ihr durchschnittliches Alter zum Zeitpunkt der Untersuchung betrug 7 Jah­re und 7 Monate(Altersbereich: 6;06 8:06). Nach Auskunft der Schulleiter lag der nicht-verbale IQ bei allen Kindern im Normalbereich. Diese Angaben stützten sich auf die bei der Einschulung der Kinder durchgeführten Intelligenztests S.O.N.(Snijders-Oomen Nicht-verbale Intelligenztestreihe), CFT-1(Grundintel­ligenztest Skala 1) und CPM(Coloured Progressive Matrices). Bei keinem der Kinder waren schwere neurologische Be­einträchtigungen oder Hörschäden fest­gestellt worden. Die sprachlichen Fähig­keiten der dysphasischen Kinder wurden über ihre Leistungen im Heidelberger Sprachentwicklungstest(HSET, Grimm & Schöler 1978) erfaßt.

Um einen möglichst differenzierten Über­blick über die sprachlichen Fähigkeiten der untersuchten dysphasischen Kinder zu geben, werden die wichtigsten Kenn­ziffern in Tabelle 1 getrennt für die Kin­der mit besserem versus schlechterem Ge­samttestergebnis berichtet. Dies scheint sinnvoll, da sich wie auch vor dem Hintergrund bisheriger empirischer Er­gebnisse zu erwarten war(vgl. Grimm& Weinert dieses Heft) erhebliche interin­dividuelle Leistungsunterschiede zeigten. Die zentralen Merkmale der sprachlichen Fähigkeiten der dysphasischen Kinder lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Lediglich bei 3 Kindern der besse­ren Gruppe liegen die Gesamttestergeb­

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