Versuchsplan und Versuchsdurchführung
Die Untersuchung wurde in Einzelversuchen durchgeführt, die aus je zwei Versuchsteilen bestanden; zwischen beiden Teilen lagen ca. 15 Minuten, in denen mit den Kindern abwechslungsreiche Spiele gemacht wurden:
Versuchsteil(1)
mündliche Vorgabe und Reproduktion der inkohärenten Version der Apfeloder Bauer-Geschichte;
Versuchsteil(2)
mündliche Vorgabe und Reproduktion der kohärenten Version der jeweils noch nicht präsentierten Geschichte und Beantwortung von 7 Fragen nach den Handlungszusammenhängen in der eben wiedergegebenen Geschichte.
Vorgabe und Reproduktion waren jeweils durch ein Behaltensintervall von 5 Minuten getrennt, das ein kleines Spiel überbrückte.
Die ‚inkohärente‘ Geschichte wurde stets im ersten Versuchsteil vorgegeben, um mögliche Transfereffekte der kohärenten Geschichtenstruktur auf die Wiedergabe der inkohärenten Version auszuschließen. Inhaltliche Transfereffekte wurden durch die systematische Variation des Geschichteninhalts vermieden: Jeweils die Hälfte der dysphasisch-sprachgestörten und der sprachunauffälligen Kinder hörte zunächst die Apfel-Geschichte in inkohärenter Version und dann die Bauer-Geschichte in kohärenter Version; für die anderen Kinder war dies genau umgekehrt, d.h. sie hörten zunächst die Bauer-Geschichte in inkohärenter Version. Um die Kinder den entsprechenden Bedingungen zuweisen zu können, wurden die sprachunauffälligen Kinder nach Geschlecht und Alter in zwei vergleichbare Untergruppen aufgeteilt; bei den dysphasisch-sprachgestörten wurden zudem die HSET-Leistungen mitberücksichtigt; jede der zwei Untergruppen setzte sich hier aus 4 Kindern mit ‚besseren‘ und vier mit ‚schwächeren‘ Gesamttestleistungen zusammen (vgl. Tab. 1).
Sabine Weinert et al.- Was macht sprachgestörten Kindern das Textverstehen so schwer?
Erfassung der Wiedergabeleistungen und statistische Auswertung
Die Reproduktionsleistungen wurden auf zwei Ebenen erfaßt: (1) Wiedergabe der wichtigsten Handlungskonstituenten: Bei dieser Auswertung stand die Frage im Mittelpunkt, inwieweit das inhaltliche Gerüst der Geschichte reproduziert wurde. Bewertet wurde entsprechend, ob die Wiedergaben die wichtigsten in der Geschichte geschilderten Handlungselemente enthalten— unabhängig davon, welche konkreten Formulierungen vorlagen. Neben der Anzahl wurde zudem die Reihenfolge der reproduzierten Handlungskonstituenten ausgewertet.
(2) Wiedergabe der einzelnen Aussagen:
Bewertet wurde, ob und wie genau die
einzelnen Aussagen der Vorgabe repro
duziert wurden. Unterschieden wurde zwischen Aussagen, die(a) vollständig reproduziert wurden,(b) deren wesentlicher inhaltlicher Kern trotz lexikalischer Verschiebungen oder lexikalischer
Unterspezifizierungen reproduziert wur
de und(c) die unvollständig reprodu
ziert wurden(z.B. Agent oder Patient fehlt); die syntaktische Struktur blieb dabei unberücksichtigt.
Beispiel:(Vorgeschichte— vgl. Tabelle 2: Der Bauer bittet den Hund zu bellen, damit der Esel erschrickt; der Hund antwortet:)
Originalaussage:„Nein das tue ich nicht, denn der Esel ist mein bester Freund“
Handlungskonstituente: Mißerfolg: Hund bellt nicht
Reproduktion:„Da hat der Hund nein gesagt‘“
Bewertung: Die Handlungskonstituente ist vollständig wiedergegeben, die Originalaussage dagegen gilt als nicht reproduziert.
Bei der Auswertung der kohärenten Ge
schichtenversionen wurden das jeweilige
Hauptziel sowie das wichtigste instru
mentelle Unterziel nicht mitberücksich
tigt, da diese in der inkohärenten Version nicht genannt werden.
Alle Bewertungen wurden von zwei Be
urteilern unabhängig durchgeführt; die
Übereinstimmung lag bei 98%.
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989
Die Daten wurden einmal getrennt für die dysphasischen und die sprachunauffälligen Kinder mittels Lateinischer Quadrate (vgl. Bortz 1979) ausgewertet; als unabhängige Faktoren gingen ein:(a) der Geschichteninhalt(‚Bauer‘, ‚Apfel‘),(b) die Geschichtenstruktur(kohärent, inkohärent) und(c) die Personenuntergruppen (siehe Versuchsplan); die Untergruppen erwiesen sich— wie auch aufgrund der Parallelisierung zu erwarten war— als vergleichbar. Weiter wurden für die beiden Geschichten(‚Bauer‘, ‚Apfel‘) getrennte 2-faktorielle Varianzanalysen mit den unabhängigen Faktoren ‚Sprachstörung‘(dysphasische Kinder, Kontrollgruppe) und ‚Geschichtenstruktur‘(kohärent, inkohärent) gerechnet. Dieses etwas komplizierte Verfahren hat sich als notwendig erwiesen, weil die Daten deutlich zeigen, daß das Schwierigkeitsniveau der beiden inhaltlich verschiedenen Geschichten nicht vollständig vergleichbar ist.
Ergebnisse
Zwei exemplarische Wiedergabeprotokolle
Neben der numerisch-statistischen Auswertung(siehe unten) vermögen insbesondere die Reproduktionstranskripte die Schwierigkeiten anschaulich zu machen, die dysphasisch-sprachgestörte Kinder bei der Wiedergabe längerer sinnvoller Texte haben. Die in Tabelle 3 exemplarisch angeführten Reproduktionen der kohärenten und inkohärenten Version der Bauer-Geschichte stellen zwei besonders krasse Fälle dar. Aber gerade die Fehler, die hier gezeigt werden, sind besonders geeignet, die Art der Verarbeitungs-/Wiedergabeprobleme der dysphasischen Kinder zu illustrieren.
Die wesentlichen Merkmale der Reproduktionen können in 5 Punkten zusammengefaßt werden:
(1) In beiden Reproduktionen treten keine Abfolgefehler auf, die Wiedergabereihenfolge entspricht der Vorgabe. Dies bedeutet, daß die Unverständlichkeit der Wiedergaben daraus resultiert, daß notwendige Informationen ausgelassen und
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