Sabine Weinert et al.+ Was macht sprachgestörten Kindern das Textverstehen so schwer?
zwischen 6 und 8 Jahren nachweisen. Die 8-,10- und 14-jährigen unterschieden sich jedoch nicht mehr, da ihre Leistungen bereits sehr hoch waren und mit ca. 86% Handlungsreproduktion offenkundig ein ‚empirischer Deckeneffekt‘ erreicht war. Zugleich, wenn auch nicht so stark, verbesserten sich jedoch auch die Wiedergabeleistungen bei inkohärenter Textversion, so daß die Unterschiede zwischen den beiden Versionen zwischen 4 und 6 Jahren anstiegen, dann aber mit zunehmendem Alter wieder abnahmen(Wimmer 1982, Tabelle 9, 98).
Nun entsprechen die Leistungen der Kontrollgruppe in der vorliegenden Untersuchung in etwa denjenigen der 8—10-jährigen Kinder in der Wimmerschen Untersuchung; aufgrund der hohen Leistungen bei inkohärenter Textstruktur(77% der Handlungskonstituenten wurden reproduziert) sind in Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Wimmer nur noch geringe Leistungsunterschiede zwischen kohärenter und inkohärenter Version zu erwarten. Tatsächlich erreichte die Kontrollgruppe mit einer durchschnittlichen Wiedergabeleistung von 87% der Handlungskonstituenten ein Niveau, das selbst von den 14-jährigen Kindern bei Wimmer nicht übertroffen wurde. Anders sieht es bei den dysphasischen Kindern aus. Ihre Reproduktionsleistungen(ca. 56% der Handlungskonstituenten) bei der inkohärenten Version der Bauer-Geschichte entsprechen etwa den Leistungen der 6-jährigen Kinder bei Wimmer. Während diese jedoch bei kohärenter Textstruktur deutlich mehr reproduzierten, nämlich durchschnittlich ca. 80% der Handlungskonstituenten, gilt dies für die dysphasischen Kinder der vorliegenden Untersuchung keineswegs. Mit einer Handlungsreproduktion von ca. 60% blieben ihre Leistungen auch bei kohärenter Struktur auf dem Niveau der inkohärenten Version. Dies macht deutlich, daß die geringen Strukturunterschiede bei der Bauer-Geschichte für die dysphasischen und sprachunauffälligen Kinder vollständig unterschiedlich zu interpretieren sind: Kann bei der Kontrollgruppe aufgrund der hohen Wiedergabeleistungen bei inkohärenter Textstruktur kaum
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eine größere Leistungssteigerung erwartet werden, so gilt dies eben nicht für die Gruppe der sprachgestörten Kinder; trotz niedriger Reproduktionsleistungen bei inkohärenter Textstruktur, zeigten sie keine höheren Leistungen bei kohärenter Struktur.
Eine ähnliche Argumentation kann auch für die Apfel-Geschichte geltend gemacht werden. Betrachtet man zunächst die Wiedergabeleistungen der Kontrollgruppe, so zeigt sich, daß die kohärente Version der Apfel-Geschichte fast ebenso gut reproduziert wird wie die entsprechende Version der Bauer-Geschichte; mit einer Reproduktionsleistung von 82% der zentralen Inhalte dürfte auch hier bereits ein ‚empirischer Deckeneffekt‘ vorliegen. Der deutlichere Struktureffekt bei der Apfel- gegenüber der Bauer-Geschichte ist somit nicht auf eine geschichtenabhängige Strukturnutzung zurückzuführen(diese ist bei beiden Geschichten nahezu perfekt), sondern darauf, daß die inkohärente Version der Apfel-Geschichte mit 66% Handlungsreproduktion etwas schlechter reproduziert wurde als die entsprechende Version der BauerGeschichte.
Bei den dysphasisch-sprachgestörten Kindern zeigt sich ein völlig anderes Bild. Selbst bei der kohärenten Version der Apfel-Geschichte reproduzierten sie nur 49% der zentralen Inhalte, bei der inkohärenten Version waren es sogar nur 34%. Der ‚Struktureffekt‘ bei der Apfel-Geschichte bedeutet somit nicht, daß die kohärente Version der Apfel-Geschichte besser wiedergegeben wird als diejenige der Bauer-Geschichte; im Gegenteil: numerisch werden sogar weniger Handlungskonstituenten reproduziert als bei der inkohärenten Bauer-Geschichte. Der ‚Struktureffekt‘ bedeutet vielmehr, daß die besonders ausgeprägten Probleme bei der inkohärenten Version der Apfel-Geschichte geringfügig kompensiert werden können.
Zusammenfassend: Obgleich sich für die Gruppe der dysphasischen und der sprachunauffälligen Kinder ein numerisch vergleichbarer ‚Struktureffekt‘ zeigt, kann hieraus in keinem Fall auf eine auch nur annähernd vergleichbare ‚Strukturnutzung‘ geschlossen werden!
Während die Kontrollgruppe bei kohärenter Struktur stets sehr hohe Wiedergabeleistungen aufweist, können die dysphasischen Kinder hierarchische Handlungsstrukturen teilweise gar nicht, teilweise nur sehr begrenzt bei der Reproduktion der Geschichten nutzen. Zudem haben sie erhebliche Probleme bei der Wiedergabe der inkohärenten Geschichtenversionen. Dies gilt in besonders starkem Maße für die Apfel-Geschichte.
Was aber macht die Reproduktion der inkohärenten Apfel-Geschichte so schwierig? Eine Erklärung für die unterschiedliche Schwierigkeit der Apfel- und Bauer-Geschichte könnte in der unterschiedlichen Qualität der semantischen Zusammenhänge zwischen den jeweils geschilderten Personen, Handlungen und Handlungsbedingungen liegen. Während die Inhalte der Bauer-Geschichte aus einem semantisch eng verknüpften Bereich stammen(Tiere, Bauernhof) und die Zuordnungen von Agenten und Handlungen oder Agenten und Handlungsbedingungen bereits im Vorwissen verankert sind, ist die ‚semantische Nähe‘ der in der Apfel-Geschichte geschilderten Inhalte geringer. So gehört es beispielsweise zum allgemeinen Vorwissen über Kühe, daß diese Milch geben und gerne Heu fressen; im Gegensatz dazu ist die Information, daß eine Wolke Schneeflokken gibt und gerne ein Winterlied hört (Apfel-Geschichte), nicht unmittelbarer Bestandteil des Wissens über Wolken. Entsprechend gibt die Information ‚Kuh‘ sowohl Hinweise auf die geforderte Handlung als auch auf die Handlungsbedingungen, während dies für die Information ‚Wolke‘ nicht in gleichem Maße gilt. Diese geringere ‚semantische Integriertheit‘ macht verständlich, daß die dysphasischen wie auch die sprachunauffälligen Kinder— zumindest bei inkohärenter Textstruktur— die einzelnen Aussagen der Apfel-Geschichte schlechter reproduzieren als diejenigen der Bauer-Geschichte(vgl. z.B. Rosenberg, Jarvella& Cross 1971). Während jedoch die Fähigkeit, die wesentlichen Geschichteninformationen wiederzugeben, bei den sprachunauffälligen Kindern durch diese inhaltlichen Unterschiede nur geringfügig beeinflußt wird, zeigten sich bei den
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989