Sabine Weinert et al.- Was macht sprachgestörten Kindern das Textverstehen so schwer?
dysphasischen Kindern auch auf der Handlungsebene größere Schwierigkeiten bei der Reproduktion der ApfelGeschichte.
Für die dysphasischen Kinder können somit 3 Hauptergebnisse festgehalten werden: Erstens haben sie erhebliche Probleme, die relativ unverbundenen zentralen Handlungskonstituenten der inkohärenten Geschichtenversion zu reproduzieren; zweitens gilt dies umso mehr, wenn die einzelnen Handlungskonstituenten semantisch nicht sehr gut integriert sind; und drittens gilt, daß sie bei semantisch gut integrierten Handlungskonstituenten keinen zusätzlichen Nutzen aus der Vorgabe einer hierarchischen Gesamtstruktur ziehen können; diese ermöglicht ihnen lediglich, die geringere semantische Integriertheit der Einzelkonstituenten zu kompensieren.
Wir vermuten, daß diese Ergebnisse darauf zurückgeführt werden können, daß dysphasische Kinder spezifische Probleme beim Aufbau hierarchischer Repräsentationen haben. Zwar erlaubt die vorliegende Untersuchung keine klare Trennung von Verstehens- und Wiedergabeprozessen; betrachtet man jedoch die in anderen Untersuchungen gefundenen kognitiven Defizite dysphasischer Kinder, so stehen unsere Daten in Einklang mit der Annahme, daß die gravierenden Probleme, die die dysphasischen Kinder mit längeren sinnvollen Texten haben, einerseits auf Defizite in der hierarchischen Strukturierungsfähigkeit und/oder der ganzheitlichen, gestaltorientierten Informationsverarbeitung zurückgeführt werden können und andererseits auf Probleme bei der Speicherung/dem Abruf relativ unverbundener Informationen. Es
bedarf weiterer empirischer Untersuchungen, um zu klären, inwieweit diese beiden Problembereiche zusammenhängen, ob und inwieweit sie ein strukturelles Kompetenzdefizit oder ein auf den Verarbeitungsprozeß bezogenes Produktionsdefizit widerspiegeln. Diese Fragen scheinen umso wichtiger, wenn man neben den theoretischen auch die pädagogisch-praktischen Konsequenzen ins Auge faßt.
Anmerkung: Die Daten wurden im Rahmen der Diplomarbeit„Nutzung hierarchischer Textstrukturen bei der Verarbeitung und Wiedergabe von Erzählungen: Eine vergleichende Untersuchung dysphasisch-sprachgestörter und sprachunauffälliger Grundschulkinder‘ von G. Delille und R. Scholten-Zitzewitz erhoben.
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Anschrift der Verfasserin: Dipl. Psych. Sabine Weinert Abteilung für Psychologie Universität Bielefeld Postfach 8640
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