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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Die Bielefelder Längsschnittstudie

zur Früherkennung von Risiken

der Lese-Rechtschreibschwäche: Theoretischer Hintergrund und erste Befunde

Von Helmut Skowronek und Harald Marx

Eine 1986 begonnene Längsschnittuntersuchung, die vom letzten Kindergartenjahr bis ins vierte Grund­schuljahr reichen soll und sich auf die Vorhersage und Vorbeugung von Schwierigkeiten bei der Aneig­nung von Schriftsprache bezieht, wird vorgestellt. Als Voraussetzung für das Erlernen des Lesens und Schreibens werden nach kritischer Erörterung der einschlägigen Forschung Prozesse der sog. phono­logischen Verarbeitung mündlicher Sprache sowie spezifische Aufmerksamkeitsleistungen angesehen. Entsprechend diesen theoretischen Vorgaben wählt die vorliegende Untersuchung die Prädiktoren für das Screening-Verfahren. Die Bildung der verschie­denen Stichproben sowie die Entwicklung und Merk­male der einzelnen Teiltests des Screenings werden dargestellt. Ergebnisse der ersten beiden Meßzeit­punkte werden anschließend mitgeteilt.

A longitudinal research project which started in 1986 is presented. Ages range from last year of kindergar­ten to fourth elementary grade. The study deals with the prediction and prevention of difficulties in acqui­sition of alphabetic literacy. The discussion of rele­vant research shows that abilities of so-called phono­logical processing of oral language and specific atten­tional processes are critical requirements for Success in learning to read and write. The various predictors for the screening battery were chosen on the basis of this theoretical orientation. The assignment of chil­dren to different groups and the construction of the screening battery are described. Finally, some results from the first two measurement points are reported.

Das Bielefelder ProjektFrüherkennung und Prävention bei Risiken der Le­se-Rechtschreibschwäche(Skowronek, Beck& Juhl 1985) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 227 Konzi­piert knüpfte zunächst an die Bilanz des einschlägigen Forschungsstandes im deutschsprachigen Raum an, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1978 im BerichtZur Lage der Legasthenie­forschung vorgelegt worden war. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Legasthenie und den da­mit verbundenen Modellvorstellungen hatte eine Vielzahl von methodischen und inhaltlichen Schwächen offengelegt. Andererseits begann sich gegen Ende der sechziger Jahre, vor allem im anglo­amerikanischen Raum, eine Erforschung

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des(normalen) Leselern-Prozesses zu entwickeln, die sich auf vergleichbare Kritik der älteren Legasthenie- bzw. Dyslexie-Forschung stützte und Anre­gungen aus Psycholinguistik, Entwick­lungspsychologie und aus der Theorie der menschlichen Informationsverarbei­tung aufnahm(vgl. Kavanagh& Mat­tingly 1972).

Phonologische Verarbeitung Voraussetzung des Lesenlernens?

In der älteren, auf die Entdeckung grundlegender Funktionsmängel orien­tierten Erforschung der Lese-Recht­schreib-Schwäche war u.a. die Vorstel­

lung dominant, daß Mängel der visuel­len Wahrnehmung von Formen und schließlich von Buchstaben ursächlich für diese Schwierigkeiten sind. Zur Plau­sibilität dieser Hypothese trug vor allem die Beobachtung typischer Fehler wie b-d-Verwechslungen bei. Wie inzwischen hinlänglich bekannt(vgl. Angermaier 1977), ist jedoch der Anteil derartiger Fehler bei schwachen Lesern nicht hö­her als bei guten Lesern. Zahlreiche Un­tersuchungen, die visuelle Mängel bei legasthenen Schülern nachweisen sollen, unterliegen Konfundierungen mit Fak­toren wie Instruktionsverständnis, Ver­trautheit mit den gebotenen Aufgaben, mit Aufmerksamkeits- und Behaltens­leistungen u.ä.m.. Je besser eine Auf­gabe visuelle Prozesse zu isolieren er­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989