laubt, umso geringer sind die Unterschiede zwischen guten und schwachen Lesern(Vellutino 1979).
Eine neue Orientierung wird bei Vernon in dem Buch„Backwardness in Reading“ (1957) erkennbar, das neben visuellen auf„auditorische“ Fertigkeiten beim Lesenlernen hinweist. Daß bei diesem Lernprozeß die eigentlich kritischen Leistungen in einer bestimmten Verarbeitung der gesprochenen Sprache liegen, hatte im deutschen Sprachraum früher schon Bosch(1937) sehr nachdrücklich behauptet:„„... allgemeinste Voraussetzung zum Lesenlernen(ist) eine gewisse Abständigkeit der Sprache..., die es dem Lesenlernenden ermöglicht, in dem durch die Struktur der Buchstabenschrift geforderten Maße die Sprache analytisch zu durchschauen, d.h. zunächst ihren Aufbau aus einzelnen Redeteilen, ferner deren lautliche Bestimmtheit durch gewisse artikulatorische Momente, die sog. Stellungslaute, zu erkennen.“(Bosch 1937, 93). Die Verwandtschaft dieser„Abständigkeit“ oder„Vergegenständlichung‘“ der gesprochenen Sprache mit dem sich seit etwa 1970 verbreitenden Terminus der„phonologischen Bewußtheit“(als Bewußtheit der Lautstruktur der gesprochenen Sprache wie auch als Sensibilität für lautliche Dimensionen von Sprache) ist unschwer erkennbar(vgl. Mattingly 1972).
Damit der Lesenlernende die für die Repräsentation gesprochener Sprache in alphabetischer Schrift konstitutiven Zuordnungen von Lauten zu graphischen Zeichen(Phonem-Graphem-Zuordnungen) erwirbt, muß er seine Aufmerksamkeit auf den(formalen) Lautaspekt des Sprechens richten und geeignete Elemente unterscheiden lernen. Bildet ein Leseanfänger phonologische Bewußtheit nicht in zureichendem Maße aus und kommt nicht in die Lage, den Sprechstrom zu segmentieren, muß er früher oder später als lese-rechtschreibschwach auffällig werden. Der wenige Jahre später von Reber& Scarborough herausgegebene Band„Toward a psychology of reading“(1977) faßte die bis dahin entwickelten theoretischen Überlegungen und empirischen Befunde zum Zusammenhang zwischen phonologi
Helmut Skowronek& Harald Marx- Die Bielefelder Längsschnittstudie
scher Bewußtheit— gemessen beispielsweise als Segmentieren von Wörtern nach Silben und Phonemen oder als Erkennen und Erfinden von Reimen— und ersten Leseleistungen zusammen. Wenn auch der korrelative Charakter dieser Befunde Aussagen über die Kausalrichtung nicht zuließ, dominierte doch die Vorstellung, daß phonologische oder phonemische Bewußtheit dem Lesenlernen ursächlich vorausgeht. In Zweifel gezogen wurde diese Auffassung erstmals durch Morais, Carey, Alegria& Bertelson(1979), die aufgrund von Befunden u.a. bei erwachsenen Analphabeten die Gegenthese entwickelten, daß die Fähigkeit, den Sprechstrom in Phoneme zu segmentieren, erst ein Ergebnis des Leseunterrichts sei.
Die Diskussion seither hat zu einer Reihe von Klärungen und Differenzierungen geführt. So ist deutlich, daß einzelne Längsschnitt-Korrelationsstudien, die für eine kausale Rolle von phonologischer Bewußtheit sprechen, den Stand der(spontan erworbenen oder etwa im Kindergarten angeregten) Lesefertigkeit nicht kontrollieren. Ein Beispiel dafür ist die Untersuchung von Lundberg, Olofsson& Wall(1980). Nach einer entsprechenden Reanalyse(Wagner& Torgesen 1987), die den Grad der anfänglichen Lesekenntnisse konstant hält, werden die von Lundberg et al.(1980) mitgeteilten Korrelationen zwischen phonologischer Bewußtheit und Leseleistung unbedeutend. Damit ist die Gefahr von Zirkelschlüssen aufgezeigt: Lesen wird durch Lesen vorhergesagt. Zumindest vernachlässigen fast alle einschlägigen Arbeiten die Prüfung der alternativen Kausalrichtung— vom Lesen zu phonologischer Bewußtheit. Gleichwohl ist mit dem Entweder-Oder von These und Gegenthese die Frage des Lesen-Schreiben-Lernens und seiner Vorläuferfertigkeiten nicht angemessen beantwortbar. Dieser Prozeß ist, bis die volle Fähigkeit automatisierten und verständigen Lesens erreicht ist, zeitlich so ausgedehnt, daß viele Zwischenstadien der wechselseitigen Beeinflussung von phonologischen Verarbeitungsprozessen und Lesefertigkeit konzipiert werden müssen. Die Fragestellung„ist gleichzeitig komplexer
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989
und schärfer: Welche Aspekte der phonologischen Verarbeitung... sind kausal mit welchen Aspekten des Lesens...in welchen Stadien ihrer gemeinsamen Entwicklung verknüpft, und welche Richtung haben jeweils diese kausalen Beziehungen?‘““(Wagner& Torgesen 1987, 209, Übers. d. A.).
Differenzierung phonologischer Verarbeitungsprozesse
Auch die von Morais et al.(1979) untersuchten erwachsenen Analphabeten geben in den Aufgaben zur phonologischen Bewußtheit im Durchschnitt 19% richtige Antworten, mit großen individuellen Unterschieden. Einiges an phonologischer Verarbeitung wird offenbar doch ohne Leselehrgang erworben. Andererseits sind Aufgaben eines Schwierigkeitsgrades vorstellbar, wie z.B. das Ersetzen von Phonemen im Wort, die erst lösbar werden, wenn im fortgeschrittenen Leselehrgang genaue alphabetische Strategien erworben sind.
Morais, Alegria& Content(1987) bieten selbst geeignete Differenzierungen des globalen Konzepts der phonologischen oder phonemischen Bewußtheit an:(a) Bewußtheit für Lautfolgen,(b) phonetische Bewußtheit und(c) phonemische Bewußtheit.(Wir unterscheiden später zur Klassifikation der eigenen Screening-Aufgaben knapper zwischen phonologischer Bewußtheit im weiteren und engeren Sinne.)
Die spätere Fähigkeit, Phoneme zu segmentieren,„setzt voraus, daß Sprechäußerungen als Lautfolgen aufgefaßt werden. Das impliziert, daß man für den Augenblick von Bedeutungen absehen kann.“(Morais et al. 1987, 425, Übers. d. A.). Diese erste Sensibilität und Zentrierung auf den Lautaspekt gesprochener Sprache dürften wenigstens bei 5jährigen anzunehmen sein. Die Gliederung des Sprechstroms hingegen, die etwa im letzten Jahr des Kindergartens in Sprachspielen mit Silbentrennungen und Reimen sichtbar wird, ist phonetischer Art, d.h. sie orientiert sich an der „Oberfläche“ und den Merkmalen kon
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