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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Helmut Skowronek& Harald Marx- Die Bielefelder Längsschnittstudie

kreter Lautbildung und impliziert(noch) nicht den Schluß auf die abstrakten linguistischen Einheiten der Phoneme. Weiterhin sprechen sowohl linguistische wie psychologische Gründe für eine Glie­derungsebene zwischen Silbe und Pho­nem(Treiman 1987): Silben werden nämlich intern nach Anfang und End­cluster bzw. Reim unterschieden. Das Verstehen und Produzieren von Reimen durch Fünfjährige setzt nach Bradley& Bryant(1983) die Bewußtheit für das Gliederungselement Reim auf der Ebene zwischen Silben- und Phonembewußt­heit voraus. Augenscheinlich wird die­ser Grad phonologischer Verarbeitung vor Beginn des Leselehrgangs erworben. Für die Ausbildung der Fähigkeit, Laut­folgen nach den abstrakten linguisti­schen Einheiten einzelner Phoneme zu gliedern, ist im Regelfall die Auseinan­dersetzung mit dem alphabetischen Sy­stem und mit der Notation von Sprache in Buchstabenfolgen notwendig. Die Beobachtung, daß Kinder auch nach ersten Fortschritten im Lese-Schreib­Lehrgang Schwierigkeiten haben, Kon­sonantencluster am Anfang eines Wor­tes z.B. /bl/ richtig zu analysieren, zeigt, daß auch diese abschließende Stufe phonologischer Verarbeitung allmählich, über viele aufgabenspezifische Zwischen­stadien erworben wird.

Neben phonologischer Bewußtheit und ihrer Differenzierung nach Entwicklungs­stufen sind weitere Teilprozesse phono­logischer Verarbeitung zu unterscheiden, die für das Lesenlernen von Bedeutung sind(vgl. Wagner& Torgesen 1987). Es handelt sich einmal um dasphonologi­sche Rekodieren für den Zugang zum Lexikon, d.h. eine Repräsentation der gelesenen Schriftzeichen auf lautlicher Basis(im sog. phonologischen Kode), um vom geschriebenen und erlesenen Wort zu seiner Bedeutung zu kommen. Eine ty­pische Aufgabe, um die Schnelligkeit des Zugriffs zum Bedeutungsgedächtnis zu messen, stellt das Benennen von Far­ben, Objekten und anderen Reizen dar (Denckla& Rudel 1976). Zwar dürfte der geübte Leser bei geläufigen Wörtern den direkten Weg vom visuellen Muster zur Bedeutung nehmen, es besteht aber für die ersten Stadien des Lesenlernens

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Konsens darüber, daß derUmweg über phonologische Kodierungen notwendig ist. Eine dritte Komponente zeitlich dem eben erörterten Teilprozeß voraus­gehend betrifft dasphonetische Re­kodieren zur wirksamen Speicherung im Arbeitsgedächtnis. Es handelt sich auch

hier um die Umsetzung der Grapheme

für die einzelnen Laute eines Wortes in eine Repräsentation, die der gesproche­nen Lautgestalt nahe ist(deshalb phone­tisch im Unterschied zu phonologisch). Die wirksame Speicherung ist so lange notwendig, bis die Laute zu einem Wort verschmolzen sind. Auch hier dürfte gelten, daß die Rekodierung insbeson­dere für den Leseanfänger kritisch ist (Baddeley 1982). Außer für die Integra­tion von Lauten zu Wörtern dürfte die Bildung von phonetischen Kodes auch für das Verstehen von Sätzen wichtig sein(Perfetti& McCutchen 1982).

Aufmerksamkeitsprozesse beim Lesenlernen

Neben der phonologischen Verarbeitung von Sprache müssen Kinder beim Schrift­spracherwerb auch visuelle Informatio­nen enkodieren und integrieren lernen, z.B. die Buchstaben als visuelle Einhei­ten und die Links-Rechts-Anordnung un­serer Schrift.

Frühe Ansätze, die die Bedeutung all­gemeiner visueller Leistungen für den Schriftspracherwerb in den Vordergrund stellten, begriffen Leseschwierigkeiten als Ausdruck von Defiziten in allgemei­nen visuellen Fertigkeiten.

Kagan(1965) sowie Wagner(1976) sa­hen die Dimension Impulsivität-Reflexi­vität als einen Informationsverarbei­tungsstil an, der zur Erklärung von Schwierigkeiten beim Lesenlernen her­angezogen werden kann. Ein Reflexivi­tätstraining zur Verbesserung der Lese­und Schreibleistungen erbrachte jedoch keine spezifischen Effekte(Edler, Ostrau & Schulze 1977).

Frostig(1972) erachtete allgemeine Fä­higkeiten der visuellen Wahrnehmung als für den Verlauf des Schriftspracher­werbs wesentlich. Entsprechende Trai­

ningsversuche(u.a. an Vorlagen zur Formwahrnehmung und Feldabhängig­keit) erbrachten ebenfalls keine spezifi­schen Effekte. Die Kinder verbesserten wohl ihre visuellen Wahrnehmungsfertig­keiten, nicht aber ihre Lese- und Schreib­leistungen(Elkind, Larson& Doorninck 1965).

Diese Ergebnisse verdeutlichen, daß visu­elle Fertigkeiten nicht losgelöst vom Lerngegenstand Schriftsprache unter­sucht werden können, sondern nur in spezifischer Weise(Kohlers 1970). Marx (1985) hat aufgezeigt, daß nicht die visu­ellen Prozesse an sich, sondern die Art der kognitiven Verarbeitung der visuellen InformationSchrift die Leseentwick­lung mitbedingen und in Form verschie­dener Aufmerksamkeitsprozesse im Um­gang mit Schriftsprache festgehalten wer­den sollten.

Charakteristika der Bielefelder Längsschnittstudie

Um auf die Besonderheiten der Bielefel­der Längsschnittstudie hinzuweisen, sei­en im folgenden ihre Unterschiede in der Prädiktorauswahl und-erhebung zu älteren, abgeschlossenen Längsschnitt­studien aufgezeigt.

Diese beschränkten sich in der Regel auf eine einzie Ausgangsmessung und eine oder mehrere Kriteriumsmessungen an einer nicht weiter differenzierten Ge­samtstichprobe(z.B. Butler 1979; But­ler, Marsh, Sheppard& Sheppard 1985; Badian 1982, 1986; Bradley& Bryant 1983). Die Auswahl der Prädiktoren er­folgte überwiegend empiristisch, d.h. auf­grund von einschlägigen Korrelationsbe­funden in der Literatur. In einzelnen Studien wurden auf diese Weise entwe­der Fertigkeiten aus verschiedensten Sin­nesbereichen(z.B. Badian 1982; Butler 1979; Wendeler 1986; Satz& Friel 1978; Satz, Friel& Goebel 1975; White, Batini, Satz& Friel 1979), nur ganz spe­zielle Aspekte einer Sinnesmodalität bzw. eines Problembereichs(z.B. Lind­gren 1978; Rourke& Orr 1977; Wolf 1984, 1986) oder auch nur eine Variable aus einem psychologisch interessanten

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989