Helmut Skowronek& Harald Marx
Die Bielefelder Längsschnittstudie
Erste Ergebnisse und Diskussion
Beschreibung der Ausgangsstichprobe. Nach Anfrage bei über 1800 Erziehungsberechtigten lag für 1214 Kinder das Einverständnis zur Untersuchungsteilnahme vor. Von 1168 im Untersuchungszeitraum erreichbaren Kindern mußten 48 Kinder aus verschiedenen Gründen(z.B. Überschreiten der Altersgrenze, Sprachund Testdurchführungsprobleme) von der Auswertung ausgeschlossen werden. Von den für die Auswertung herangezogenen 1120 Kindern im Alter von 70,06 (s= 3,69) Monaten waren 558 Jungen und 562 Mädchen. Bei 86(7,7%) Kindern war die deutsche Sprache nicht die Muttersprache(vor allem bei türkischen Kindern und Kindern osteuropäischer Aussiedler).
Überprüfung der Repräsentativität der Ausgangsstichprobe. Ein Ziel der ersten Erhebung war, eine möglichst große und zugleich repräsentative Ausgangsstichprobe zu gewinnen. Die hohe Beteiligung von Kindergärten(78,5%) und ihre in etwa gleichmäßige Verteilung auf die Träger der Einrichtungen und die soziale Geographie Bielefelds lassen einen ersten positiven Schluß auf die Repräsentativität der Ausgangsstichprobe zu. Zur Überprüfung der Annahme, daß insbesondere bei den Kindergärten mit einer Teilnahmequote von unter 50% eine positive oder negative Auslese hätte erfolgen können, bildeten wir vier Gruppen unterschiedlicher Teilnahmequoten (bis 50%, zwischen 51 u. 67%, zwischen 68 u. 84% und ab 85%) und verglichen deren Leistungen in den abhängigen Variablen des Screenings. Die durchweg nichtsignifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen schließen systematische Ausleseeffekte aus und können als empirischer Beleg für die Repräsentativität der Ausgangsstichprobe gewertet werden.
Beschreibung der Ausgangsleistungen. In Tabelle 1 sind die Kennwerte der Ausgangsstichprobe für die abhängigen Variablen des Screening-Verfahrens aufgeführt. Es wird ersichtlich, daß die Verteilungen bei den Maßen der phonolo
gischen Bewußtheit im weiteren Sinne linksschief sind und ebenso wie die Kennwerte bei ‚Laut zu Wort Vergleich‘ Dekkeneffekte andeuten(vgl. auch die Maximumhäufigkeiten in Tab. 3). Deutliche Mittelwertsverschiebungen zum oberen Leistungsdrittel zeigen sich auch bei den Aufgaben ‚Pseudowörter Nachsprechen‘, ‚Wort Vergleich Suchaufgabe‘(identische Entscheidung) und bei der ‚Objektfarbenkenntnis‘. Bei letzterer sind allerdings 16 Kinder gar nicht berücksichtigt, weil bei ihnen dieser Test infolge massiver Farbnennschwierigkeiten abgebrochen wurde. Während bei den phonologischen Aufgaben das ‚Laute Verbinden‘ trotz Bildhilfe die eindeutig schwierigste Aufgabe war, zeigen die geringen nichtkorrigierten Nennungen falscher Farben bei beiden Vorlagen sowie die hohe Anzahl richtiger Lösungen beim Wortvergleich, daß Kinder dieser Altersgruppe ihre Aufmerksamkeit offensichtlich dann adäquat ausrichten, wenn ihnen durch die Aufgabenstellung sowohl das Material als auch die Bearbeitungszeit unbegrenzt zur Verfügung stehen. Sie versagen aber, wenn sie— wie im Falle des ‚Laute Verbindens‘— entweder durch die subjektive Wichtigkeit des Bilddistraktors(vgl. Odom et al. 1977), wegen der zeitbegrenzten Tonbanddarbietung und/oder einfach aus einer Ressourcenbegrenzung (Lösungsvoraussetzungen fehlen) heraus eine Zwangswahl treffen müssen.
Der Ausfall von Kindern bei der Farbkenntnis und die Zunahmen der Ausfälle beim Bearbeiten der inkongruenten Objekttafel wie auch die deutlichen Bearbeitungszeitschwankungen bzw. die schon aufgeführte Linksschiefe der Verteilungen der phonologischen Maße können als Bestätigung des Konstruktionsprinzips 4(Schaffung von Differenzierungsmöglichkeiten im unteren Drittel der Stichprobe) aufgefaßt werden. Bei jeder Screening-Aufgabe kommt eine Reihe von Kindern mit den dort gestellten Anforderungen und/oder der hochstrukturierten Testsituation(z.B. Verweigerer) nicht zurecht.(Anzumerken ist, daß die diskrepanten Anzahlen der Versuchspersonen bei den Genauigkeits- und Geschwindigkeitsparametern bei der ‚Wort Vergleich Suchaufgabe‘ lediglich ver
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989
suchstechnisch(Ausfall der Stoppuhr), beim ‚Schnellen Benennen‘ jedoch inhaltlich begründet sind. Denn bei einem Kind, das alle Objekte z.B. mit nur einem Oder mit beliebigen Farbnamen bezeichnete, wurde die erzielte Zeit als aufgabeninadäquater Lösungsversuch deklariert und nachträglich annulliert.)
Die im Durchschnitt sehr geringe Kenntnis von etwas über vier Buchstaben- bzw Lautnamen des Großbuchstaben-Alphabets(Median= 2,0!) steht in deutlichem Gegensatz zu den Befunden in der angloamerikanischen Literatur(vgl. Share et al. 1984; Ehri& Wilce 1987; Vellutino & Scanlon 1987). Dieser geringe Kenntnisstand kann als Indiz dafür gewertet werden, daß zumindest bei der überwiegenden Mehrzahl der Kinder Konfundierungen bei den Leistungen in den phonologischen Bewußtheitsaufgaben mit vorschulischer Leseerfahrung(s. Wagner& Torgesen 1987) nicht zu erwarten sind.
Teilstichprobengewinnung. Aus der Gesamtstichprobe sollte eine für den Längsschnitt bewältigbare und dennoch repräsentative Teilstichprobe gezogen werden. Die Größe der Ausgangsstichprobe und die offensichtlich nicht vorhandenen Selektionseffekte lassen die Ziehung einer Repräsentativstichprobe aus unserer Ausgangsstichprobe zu. Aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von Ressourcen beschränkten wir uns auf eine Ziehungsquote von etwa 15%. Unter Berücksichtigung der alters- und geschlechtsmäßigen Verteilung wurden auf diese Weise 171 Kindergartenkinder per Zufall in die Repräsentativstichprobe aufgenommen.
Eine weitere Teilstichprobe sollte bei einem zunächst nur statistisch begründeten Cut-off der unteren Verteilung von 15% aus dem verbleibenden Rest der Gesamtstichprobe zusammengestellt werden. In Tabelle 1 sind die Mittelwerte und Standardabweichungen aller zur Risikobestimmung herangezogenen Variablen angegeben. Außerdem sind die empirisch berechneten Cut-offs(stichprobenabhängige Setzung jeweils bei den unteren 15% der Verteilung(V) pro ausgewerteter Variable) und die inhaltlich bzw. wahrscheinlichkeitstheoretisch begründeten Grenzwerte(stichprobenun
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