Phonologische Bewußtheit: Aufgabenentwicklung und Leistungen
im Vorschulalter
Von Gerd Mannhaupt und Heiner Jansen
Im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Früherkennung von Risiken der Lese-Rechtschreibschwäche im Vorschulalter wurden Aufgaben zur phonologischen Bewußtheit(Phonemsegmentierung, Silbensegmentierung, Laut zu Wort Zuordnung) aus dem englischsprachigen Raum übernommen und auf ihre Schwierigkeit für deutsche Vorschulkinder hin überprüft. Die Ergebnisse zeigen, daß das Leistungsniveau, über das zum Teil in der englischsprachigen Literatur berichtet wird, bei deutschen Vorschulkindern nicht wiedergefunden werden konnte. Schlüsse für die Verwendbarkeit solcher Aufgaben in einem VorschulSichtungsverfahren werden diskutiert.
Within the framework of a project on early prediction of difficulties in literacy, tasks on phonological awareness, i.e. phonem segmentation, syllable segmentation, and sound to word matching, were adapted from English literature. The investigation of their level of difficulty for German preschoolers showed performances that were below those reported in the English-speaking literature. Conclusions were drawn on the usefulness of such tasks of phonological awareness for preschool screenings of phonological awareness.
Der Begriff phonologische Bewußtheit (auch phonematische Bewußtheit; engl.: phonological/phonemic awareness— Golinkoff 1978; Rozin& Gleitman 1977) bezeichnet das Phänomen, daß Sprache aus distinkten lautlichen Einheiten bestehend wahrgenommen und mit diesen lautlichen Segmenten analytisch und/ oder synthetisch umgegangen werden kann(Mattingly 1972). Als Indikator für phonologische Bewußtheit gelten im engeren Sinne das Erkennen und Benennen von lautlichen Segmenten(Analyse), das Verschmelzen von vorgegebenen lautlichen Segmenten zu einer größeren sprachlichen Einheit(Synthese), sowie im weiteren Sinne der indirekt erschlossene Zugang zu phonologischen Regelhaftigkeiten(z.B. Reimpaare Erkennen).
Eine Zunahme der Arbeiten zur phonologischen Bewußtheit und ihre Erforschung im Rahmen des Schriftspracherwerbs läßt sich u.a. seit der Rezeption der Veröffentlichung von Elkonin(1963) aus dem Russischen konstatieren. Elko
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nin berichtete über eine Methode, mit der Nichtlesern im Alter von sechs Jahren die Leistung der vollständigen Phonemsegmentierung ohne Buchstaben ohne große Schwierigkeiten vermittelt werden konnte. In Anlehnung an die Denkund Lerntheorie Galperins(1969) bestand der„Einstieg‘“ in die Segmentierung aus dem gleichzeitigen auditiven Analysieren der Wörter und dem Legen von„Lautplättchen‘“ in das dem Wort zugehörige Schema. Über vier Stufen wurde diese anfangs vollkommen materialisierte, d.h. durch Gegenstände unterstützte Handlung bis zur vollkommen verinnerlichten Form bei den Kindern ausgebildet. Elkonin verstand diese Übungen nicht als Ausbildung der vom Schriftspracherwerb losgelösten Fertigkeit der phonologischen Bewußtheit, sondern als Einstieg in den Schriftspracherwerb, da — im fließenden Übergang— von der Phonemsegmentierung zu der eigentlichen Auseinandersetzung mit der Schrift fortgefahren werden muß.
Unter der Prämisse, daß ein Zusammen
hang von Schriftspracherwerb und der lautlichen Durchgliederung von Sprache besteht, untersuchten zahlreiche Studien empirische Zusammenhänge zwischen phonologischer Bewußtheit und dem Lesen- und Schreibenlernen. Hierunter gibt es sowohl Arbeiten zu Leistungen in phonologischer Bewußtheit im Vorschulalter(Bruce 1964; Liberman, Shankweiler, Fischer& Carter 1974; Fox& Routh 1975; Helfgott 1976; Zifcak 1981; Blachman 1983) als auch Versuche, mit Hilfe von Vorschultrainings in diesen Fertigkeiten das Risiko für Lese-Rechtschreibprobleme zu minimieren(Bradley& Bryant 1983; Treiman& Baron 1983).
Darüber hinaus zeigten Längsschnittstudien korrelative Zusammenhänge von Leistungen in phonologischer Bewußtheit mit dem Erfolg im Schriftspracherwerb(z.B. Butler 1979; Mann& Liberman 1982; Tunmer& Nesdale 1985; Bradley& Bryant 1985).
Aufgrund dieser Forschungsaktivitäten bildeten sich drei Auffassungen über den Zusammenhang zwischen phonologischer
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989