Anke Moch- Probleme leseschwacher Schüler
Ensslen 1984; Vellutino 1979), daß die verschiedenen Bereiche der sprachlichen Kompetenz in unterschiedlichen Etappen des Lesenlernens eine Rolle spielen. So wird angenommen, daß zu Beginn des Leselernprozesses die Verarbeitung lautlicher Aspekte besonders wichtig ist, bei späteren Etappen dagegen semantische und syntaktische Fertigkeiten. Zwischen der Leseleistung und sprachlichen Kompetenzen sind aber zwei Verursachungsrichtungen und auch reziproke Beziehungen möglich. So betont Stanovich(1986 b) bei der Diskussion von Korrelationsstudien, daß vieles, was das Leseverständnis fördert, über das Lesen selbst erworben wird.
Dies scheint z.B. für die Kenntnis unterschiedlicher syntaktischer Strukturen und den geübten Umgang mit denselben zu gelten sowie für den Neuerwerb und Ausbau semantischer Repräsentationen. Einige Befunde deuten zumindest in diese Richtung. So ist in einer der wenigen Längsschnittstudien in diesem Bereich die Verarbeitung komplexer grammatischer Strukturen im Kindergartenalter, im 3. und 5. Schuljahr untersucht worden(Fletcher, Satz& Scholes 1981). Obwohl bei der Leseleistung relativ früh Differenzen auftraten, unterschieden sich diese guten und schlechten Leser beim Verstehen grammatisch komplexer Sätze erst im 5. Schuljahr voneinander. Dabei war die Gleichheit des Leistungsstandes in den vorherigen Schuljahren nicht auf einen Bodeneffekt zurückführbar.
Bezogen auf den Erwerb semantischen Wissens wurde mit spezifischen Wortschatztests nachgewiesen, daß Schüler des 5. und 8. Schuljahres aus einem Text die Bedeutung unbekannter Wörter erschließen und daß sie die Textinformation auch zur Erweiterung semantischer Repräsentationen nutzen(Jenkins, Stein & Wysocki 1984; Nagy, Herman& Anderson 1985). Diese Ergebnisse sind auf den Lesealltag übertragbar, weil den Versuchspersonen der nachträgliche Wortschatztest nicht angekündigt worden war. Bei den letzten Untersuchungen wurde zwar nicht zwischen guten und schlechten Lesern unterschieden. Schulische Beobachtungen und Befragungen zum
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außerschulischen Lesen zeigen aber, daß leseschwache Schüler viel weniger lesen (vgl. Stanovich 1986 b).
Wenn der Umgang mit schriftsprachlichem Material zum Ausbau sprachlicher Kompetenzen führt, sind diese Schüler schon allein aufgrund ihrer mangelnden Erfahrung benachteiligt.
Zur Koordination zwischen der sprachlichen Verarbeitung und den Entschlüsselungsvorgängen während des Lesens
Abschließend soll nun die Möglichkeit diskutiert werden, ob auch das Entschlüsseln der Grapheme von dem logisch übergeordneten sprachlichen Verstehen beeinflußt wird. In der Verarbeitungshierarchie ist diese von oben nach unten verlaufende Einflußrichtung prinzipiell möglich, weil auf allen Ebenen gleichzeitig prozediert wird(vgl. Abb. 1). In der Kognitionspsychologie wird eine solche Vorgehensweise als„top-down“ bezeichnet, im Unterschied zu einer ausschließlich„bottom-up“‘ gerichteten Vorgehensweise. Innerhalb der Leseforschung sind dazu unterschiedliche Modelle aufgestellt worden, die sich den folgenden drei Modell-Typen zuordnen lassen.
In einem der ersten theoretischen Ansätze, der auch großen Einfluß auf die Lesedidaktik gewann, wurde der„Zugang von oben‘ betont und galt somit das Sprachverstehen als sehr bedeutsam für das Erkennen von Wörtern(Goodman 1976; Smith 1971).
Nach diesem Modell machen gute Leser in Abhängigkeit von ihrem Verstehen fortlaufend Vorhersagen über die jeweils nächsten Wörter. Das Worterkennen ist somit hypothesengeleitet, d.h. die graphemischen Muster erfahren keine detaillierte Analyse, sondern die Vorhersage wird anhand nur weniger Merkmale geprüft. Durch diesen Verzicht auf ein genaues Entschlüsseln soll die Geschwindigkeit der guten Leser zustandekommen. Danach ist das besondere Problem von Leseanfängern und schlechten Lesern
ihre wenig effiziente sprachliche Verarbeitung. Weil sie nicht so schnell und adäquat Vorhersagen aufstellen können, sind sie auf eine detaillierte und zeitintensive Analyse der graphemischen Einheiten angewiesen.
Dieses Modell des Worterkennens ist mittlerweile durch zahlreiche empirische Befunde widerlegt worden. So unterscheiden sich gute und schlechte Leser nicht nur bei sinnvollen Texten in ihrer Lesegeschwindigkeit, sondern weit stärker beim Lesen unzusammenhängender Wörter(s. Stanovich 1980). Auch haben Experimente, bei denen das Blickverhalten während des Lesens genau registriert wurde, gezeigt, daß Erwachsene in einem Text jedes auch noch so vorhersagbare Inhaltswort betrachten(Just& Carpenter 1980; McConkie& Zola 1980). Diese Wörter werden anscheinend vollständig und nicht nur partiell analysiert, denn selbst der Austausch eines mittleren Buchstaben gegen einen visuell ähnlichen führte zur Verlängerung der Betrachtungsdauer.
Diese Befunde untermauern dagegen Modellvorstellungen, die den„Zugang von unten‘ betonen und bei denen die wichtigste Veränderung während des Lesenlernens in der Automatisierung der Entschlüsselungsvorgänge besteht(LaBerge & Samuels 1974; Perfetti& Roth 1981; Stanovich, 1980). Danach werden diese geistigen Operationen mit fortschreitender Übung eingeschliffen und auch schneller ausgeführt, genauso wie dies beim Einüben offener motorischer Tätigkeiten, z.B. bei Abfolgen von Tanzschritten geschieht. Zunehmende Automatisierung beinhaltet auch die Bildung von größeren Verarbeitungseinheiten, so daß fortgeschrittene Leser nicht mehr Buchstabe für Buchstabe vorgehen, sondern sich auf Kombinationen beziehen. Dies können z.B. häufige Lautfolgen oder auch Silben sein(vgl. Scheerer-Neumann 1981). Solche Einheiten beruhen aber auf Buchstaben, so daß bei dieser Vorgehensweise keine ausgelassen werden, genauso wenig wie der geübte Tänzer Schritte ausläßt. Fortgeschrittene lesen also nicht deshalb so schnell, weil sie der graphemischen Anordnung weniger Information entnehmen, sondern
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989