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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Anke Moch- Probleme leseschwacher Schüler

weil sie dies effizienter tun. Die Ausbil­dung dieser Automatisierung setzt be­reits eine alphabetische Strategie voraus (vgl. Frith 1986). Die Funktion der Au­tomatisierung ist im Zusammenhang mit der begrenzten Aufmerksamkeit zu se­hen. Derartig eingeschliffene geistige Vor­gänge laufen ohne bzw. mit nur geringer Beteiligung der Aufmerksamkeit ab. Erst wenn die Basisprozesse automati­siert sind, kann der Leser seine Kon­zentration ununterbrochen auf das Ver­stehen des Textes richten. Nach diesem Modell kommt es als Folge ineffizienter Entschlüsselungsvorgänge zu mangelhaf­tem Verstehen. Bei Leseanfängern trifft dies zu, denn bei ihnen korreliert das Le­severstehen zwar mit der Güte des Wort­erkennens, jedoch noch nicht mit dem Hörverstehen(Curtis 1980; Stanovich, Cunningham& Feeman 1984).

Genaue Beschreibungen von Verlesun­gen zeigen aber auch, daß bereits bei Erstkläßlern die meisten Fehler seman­tisch und syntaktisch adäquat sind(Bie­miller 1970; Weber 1970). Die Kinder versuchen also von Anfang an, sprachli­che Verarbeitung und Entschlüsseln mit­einander zu koordinieren.

Eine wichtige Weiterführung, die diesem Umstand Rechnung trägt, hat das Auto­matisierungsmodell durch das Konzept vom interaktiv-kompensatorischen Wort­erkennen erfahren(Perfetti& Roth 1981; Stanovich 1980). Danach geschieht die Identifikation eines Wortes durch das Zusammentragen von Informationen aus zwei Quellen, dem Entschlüsseln der Gra­pheme und den Ergebnissen der sprach­lichen Verarbeitung, die eine bestimmte inhaltliche Fortsetzung erwarten lassen. Dies Modell des Worterkennens unter­scheidet sich in einem wesentlichen Punkt von dem zuerst geschilderten. Wenn auch die Analyse der Grapheme durch die Berücksichtigung des Kontex­tes beschleunigt oder früher abgebrochen wird, so läuft sie doch nach den ihr eige­nen Gesetzmäßigkeiten ab. Was und wie entschlüsselt wird, ist nicht durch die sprachliche Verarbeitung gesteuert.

Das erweiterte Modell wurde in zahlrei­chen Experimenten mit Erwachsenen und Schulkindern geprüft, die konsisten­te Ergebnisse erbrachten(u.a. Moch

1985; Perfetti& Roth 1981; Stanovich & West 1983; Stanovich, West& Feeman 1981; West& Stanovich 1978). Als Lei­stungsmaß für das Worterkennen wurde dabei die Leselatenz erhoben. Dies ist die Zeit vom Beginn der Präsentation eines Wortes bis zum Beginn des lauten Lesens, sie gibt demnach die für diesen Vorgang benötigte Zeit an. Bei Erwachse­nen, also geübten Lesern, zeigte sich ein nur geringfügiger Einfluß eines Satzkon­textes auf das Worterkennen. So waren ihre Latenzen für ein Substantiv nach ei­nem kongruenten Kontext nur wenig kür­zer als nach einem neutralen(z.B.Der Kapitän steuert ein___ Schiff vs.Das nächste Wort heißt: ein___ Schiff) und eine inkongruente Verbindung führte auch nicht zu längeren Latenzen(Der Kapitän steuert ein___ Heft). Geübte Leser mögen zwar beim Verstehen einer so inkongruenten Fortsetzung innehal­ten, das Erkennen des Wortes ist aber nicht beeinträchtigt. Erst wenn die Wahr­nehmungsbedingungen so verschlechtert wurden, daß eine Wortidentifikation auf­grund der visuellen Information kaum noch möglich war, hatte der Satzkontext einen großen Einfluß. Dann führte ein inkongruenter Satz auch zu einer länge­ren Latenz(Stanovich& West 1983). Ge­übte Leser können demnach die Ergeb­nisse der sprachlichen Verarbeitung für das Worterkennen nutzen, unter norma­len Bedingungen tun bzw. brauchen sie dies aber nicht. Dagegen wurden bei Grundschulkindern erhebliche Kontext­effekte nachgewiesen und zwar sowohl positive wie vor allem auch negative. Weiterhin wurde gezeigt, daß auch lese­schwache Schüler den Kontext nutzen (Perfetti& Roth 1981; Scheerer-Neu­mann 1981).

Dieser Unterschied zwischen Erwachse­nen und Schulkindern wird dadurch erklärt, daß ihre Entschlüsselungsproze­duren in einem unterschiedlichen Aus­maß automatisiert sind. Danach kann das Verständnis des bisherigen Satzes, zu dem auch eine gewisse Zeit benötigt wird, bei den Erwachsenen kaum noch etwas zur Identifikation beitragen, weil die Analyse der Grapheme so rasch ge­schieht. Demgegenüber werden die lang­samer ablaufenden Entschlüsselungspro­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 1, 1989

zeduren der Schulkinder durch das Ver­stehen beeinflußt.

Stanovich(1980) und auch Perfetti und Roth(1981) betrachten die Funktion der Kontextnutzung als kompensatorisch. Je weniger die noch unzureichende graphe­mische Analyse zum Worterkennen bei­tragen kann, umso größeres Gewicht er­hält die kontextuelle Information. Die sprachliche Verarbeitung beeinflußt also das Worterkennen nur, solange die Ent­schlüsselungsprozeduren noch nicht effi­zient genug sind.

Der Kontextnutzung kann aber nicht nur eine kompensierende, sondern darüber hinaus eine kontrollierende Funktion zukommen(vgl. Moch 1985; Scheerer­Neumann 1981). Texte sind in der Re­gel sinnvoll und die Sinnhaftigkeit des Gelesenen ist für noch ungeübte Leser die einzige Möglichkeit, um die Rich­tigkeit ihrer Entschlüsselung selbst zu kontrollieren.

Diese Sicht stimmt auch mit einigen empirischen Befunden besser überein. Zum einen konnte bei Drittkläßlern ge­zeigt werden, daß die Kontexteffekte wohl nicht durch das Erwarten eines bestimmten Wortes zustandekommen (Moch 1985). Wäre dies der Fall, so müßten alle anderen Wörter zu ver­gleichbaren Verzögerungen führen. Dem­gegenüber wurden unerwartete Wörter, die den Satz jedoch zur erwarteten Satz­bedeutung ergänzten, nicht verzögert erkannt(Er nimmt den Hund an die Kette stattLeine). Wenn aber keine spezifischen Wörter erwartet wer­den, so muß der Ausgangspunkt des in­teraktiven Worterkennens ein vorläufi­ges Zwischenergebnis des Entschlüsse­lungsprozesses sein. Ergibt dies Zwischen­ergebnis innerhalb der erwarteten Satzbe­deutung einen Sinn, so hat sich damit dieser Anteil der graphemischen Ana­lyse als richtig erwiesen.

Des weiteren konnten bei Schülern der 4. und 6. Klasse nur relativ geringe Ver­kürzungen der Leselatenzen nachgewie­sen werden, was den Ergebnissen von Erwachsenen entspricht. Allerdings tra­ten nach inkongruenten Sätzen massive Verzögerungen auf(West und Stano­vich 1978). Die Kontextnutzung diente ihnen also nicht zur Kompensation. Da­

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