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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Ingrid Blanke+

auf Lebensverträglichkeit hin zu prüfen und, falls erforderlich, zu kritisieren. Dies sei zur nach wie vor bestehenden Tendenz zur Spezialisierung und Ver­selbständigung von Heil- und Sozialpäd­agogik vermerkt.

Es gibt in der Heilpädagogik Gebiete, auf denen die pädagogische Zielstellung nur im Rahmen von Maßnahmen, die das gesamte Leben der betroffenen Be­hinderten umgreifen, angemessen und mit Erfolg verwirklicht werden kann. Solchen Bereichen der Heilpädagogik ist mit einer begrenzten Schul- und Lern­pädagogik nicht gedient. Mit den mei­sten sozialpädagogisch fruchtbaren Tä­tigkeiten steht es ähnlich. Man hat in jüngster Zeit in einer glücklichen Formu­lierung von der Notwendigkeit alltags­orientierter sozialer Arbeit gesprochen (Thiersch 1982, 16 ff.). In diese Arbeit muß das Lernen im engeren Sinne einbe­halten werden, weil es sonst ein isolier­ter Fremdkörper im Leben bleibt. Eine solche Arbeit ist auch für bestimmte Ar­ten von Behinderungen das Gegebene und Wünschenswerte, aber sie ist nicht für alle Behinderten erforderlich. Diese Sachlage bedeutet unter dem Aspekt der Theoriebildungsproblematik, daß es nicht angeht, den Begriff der erwähnten alltagsorientierten Arbeit des Zusam­menlebens und-lernens mit dem Begriff der Behinderung umfangsgleich zu set­zen. Gleichwohl bietet sich hier die Möglichkeit an, eine Theorie aufzubau­en, die für Teile der Heilpädagogik und für eine Art sozialpädagogischer Tätig­keit gemeinsam sein kann. Daß dieser Theorie in bestimmten Arbeitsfeldern von Heil- und Sozialpädagogik ein ein­heitliches Gegenstandsfeld vorgegeben ist, soll im letzten Punkt meiner Überle­gungen verdeutlicht werden. Eines ist m.E. nicht möglich: die Gesamttheorien von Heil- und Sozialpädagogik durch ein und dieselbe Theorie zu übergreifen oder beide Theorien auf eine Theorie zu reduzieren( so wie man evtl. die Che­mie auf die Physik zurückführen kann). Aber aus dieser Sachlage die Konse­quenz radikaler Trennung der Theorien zu ziehen, halte ich für verfehlt.

Um die Seite der gegenläufigen Überle­gungen noch kurz ins Spiel zu bringen,

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Partielle Kongruenzen von Heil- und Sonderpädagogik

sei ein Beispiel für eine sich aufdrängen­de Differenz in der Theoriebildungspro­blematik von Heil- und Sozialpädagogik angeführt.

Es sei auf einen wichtigen Unterschied eingegangen, der die Theoriebildungs­aufgabe der Sozialpädagogik von der der Heilpädagogik trennt; genauer gesagt: der die Theorie der Sozialpädagogik als in Problemzusammenhängen verankert erweist, von denen nur durch künstlich­methodische Maßnahmen abgesehen werden kann, während die Heilpädago­gik derartige Zusammenhänge leichter vernachlässigen kann.

Die wissenschaftlich nicht in befriedi­gender Weise beantwortbare Frage nach den Ursachen abweichenden Verhaltens bringt jede sozialpädagogische Theorie in Abhängigkeit von irgendwelchen Ge­sellschaftstheorien(vgl. z.B. Mollenhau­er und Marburger). Da diese jederzeit entweder ideologisch sind oder als ideo­logisch interpretiert werden können, kann die Theorie der Sozialpädagogik es nicht vermeiden, in den Kampf der kon­kurrierenden Gesellschaftstheorien hin­eingezogen zu werden, wenn sie wie gesagt nicht künstlich gegenüber die­sem ganzen Themenkomplex Enthal­tung übt. Sie kann also nicht umhin, zu einem wesentlichen Teil kritisch zu sein, und zwar bereits in der Beurteilung ihrer Sachverhalte. Diese eigentümliche Ver­flechtung der Sozialpädagogik(als einer Disziplin in praktischer Endabsicht) mit der Gesellschaftstheorie weist die gesam­te Geschichte der Sozialpädagogik auf. Die Sozialpädagogik hat sich daher in ei­nem anderen Ausmaß als die Heilpäd­agogik und in einem wesentlichen Sinne auf die Gesellschaftstheorie einzulassen. Zwar ist diese Sachlage durch eine ge­wisse Hypertrophie der Betonung der Gesellschaftsabhängigkeit der Behinde­rung verdeckt worden, aber das ändert nichts daran, daß viele Behinderungen ihre Therapie und ihre pädagogische Be­treuung unabhängig von den Fragen nach den rechten Gesellschaftsstruktu­ren finden können.(Selbstverständlich hat die Heilpädagogik auch eine gesell­schaftliche Seite, aber es wäre übertrie­ben, gesellschaftliche Gegebenheiten un­mittelbar für die Genese der Behinde­

GESELLSCHAFT

GESELLSCHAFTS­THEORIEN

BEHINDERTE OZIAL BENACHTEILI|

Abb. 1

rungen verantwortlich zu machen.) Im Falle der Sozialpädagogik sind Genese sowie Behandlung des abweichenden Verhaltens ständig auf bestehende oder neu zu gestaltende gesellschaftliche Strukturen und Einrichtungen hin anzu­sehen. Diese werden grundsätzlich als von Menschen gemacht und veränderbar beurteilt. Die Sachverhalte der Sozial­pädagogik lassen sich nicht aus dieser Beurteilungsperspektive lösen: Sie sind daher selber in ihrem nicht-sein-sollen­den Bestand als handlungsabhängig zu sehen. Eben das ist in der Heilpädagogik nicht generell der Fall(Abb. 1).

Diese Sachlage führt unter anderem zu Differenzen in der Ausgestaltung der Theorien von Heil- und Sozialpädagogik. Solche Differenzen durch eine relevan­te Einheitstheorie zu überbauen, dürfte schwierig sein. Man sollte hier das Ver­mögen, theoretisch zu vereinheitlichen, nicht überfordern. Aber solche Differen­zen sollten nicht übersehen lassen, daß unter eingeschränkten pädagogischen Gesichtspunkten Theorieteile für Heil­und Sozialpädagogik identisch sein kön­nen.

Heil- und sozialpädagogische Arbeitsfelder(Abb. 2)

Es gibt, wie bereits erwähnt, einige Ar­beitsfelder, die heil- und sozialpädagogi­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989