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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Wolfgang Meins ­

Aggressives Verhalten bei geistig behinderten Personen

terstützung und(2) bestimmte Lebens­fertigkeiten(Selbsthilfe- und soziale Fertigkeiten). Diese Lebensfertigkeiten können aufgefaßt werden als Teilberei­che sozialer Kompetenz, die von Som­mer(1977, 71) definiert wird als die Verfügbarkeit und angemessene Aktua­lisierung von Verhaltensweisen zur ef­fektiven Auseinandersetzung mit kon­kreten Lebenssituationen. Dieses Kon­zept von sozialer Kompetenz deckt sich in etwa mit dem sog. adaptiven Verhal­ten, wie es beispielsweise von der Adap­tive Behavior Scale(Nihira et al. 1975) erfaßt wird. Messungen des adaptiven Verhaltens sind nicht streng unabhängig von denen der Intelligenz. Es ergeben sich Korrelationen zwischen.18 und.75 (Harrison 1987).

Für die vorliegende Untersuchung wurde angenommen, daß die Auftretenswahr­scheinlichkeit nicht akzeptablen Verhal­tens desto größer ist, je geringer die so­ziale Unterstützung und je niedriger die soziale Kompetenz ist(Lawton 1982; Sparrow& Cicchetti 1987). Nach Mat­son(1985) kann vermutet werden, daß Defizite in Selbsthilfe und sozialen Fer­tigkeiten erhebliche Auswirkungen auf Selbstvertrauen und emotionale Stabili­tät haben können und so die Entstehung psychischer Störungen begünstigt wer­den kann. Untersuchungen zum Kon­zept der sozialen Unterstützung, das ver­standen werden kann als Vorhandensein positiv zu bewertender oder erlebter so­zialer Kontakte, haben u.a. einen Zu­sammenhang mit dem Risiko gezeigt, psychisch zu erkranken(Baumann& Pfingstmann 1986). Die Bedeutung bei­der Forschungsansätze ist für geistig be­hinderte Menschen in Bezug auf psychi­sche Störungen bisher kaum untersucht (Matson 1985). Für depressive Störun­gen konnte ein Zusammenhang sowohl mit verminderter sozialer Unterstützung als auch geringen sozialen Fertigkeiten belegt werden(Lamann& Reiss 1987).

Methode

Die vorliegende Untersuchung bildet den Hauptteil einer umfangreicheren

Studie(vlg. Meins 1989) und wurde durchgeführt in den Alsterdorfer Anstal­ten in Hamburg. Dort werden insgesamt etwa 1200 geistig behinderte Menschen aller Altersstufen betreut. In die Unter­suchung einbezogen wurden alle Bewoh­ner der auf dem Zentralgelände gelege­nen Erwachsenenbereiche, insgesamt 692 Personen, die in über 60 verschiede­nen Wohngruppen leben. Im ersten Un­tersuchungsschritt einer Art Screen­ing wurde in Gesprächen mit Wohn­gruppenmitarbeitern ermittelt, auf wel­che Bewohner die folgende Falldefini­tion(in Anlehnung an Kessler et al. 1984, 312 f.) zutrifft:

1. Wer zeigte in den vergangenen vier Wochen körperliche Verhaltenswei­sen, die gegen eine andere Person oder gegen ein Objekt gerichtet wa­ren und zumindest die Möglichkeit einer Verletzung oder Beschädigung beinhalteten?

2. Bei wem wurden die 0.g. Verhaltens­weisen zwar nicht während der letz­ten vier Wochen beobachtet, aber stellen sie dennoch ein ernstes päd­agogisches Problem dar?

Auf diese Weise konnten aus der Gesamt­stichprobe(N= 692) insgesamt 109 Per­sonen(Fälle) mit aggressivem Verhalten ermittelt werden. Bei 96 von ihnen ba­siert die Zuordnung auf dem ersten Teil der Falldefinition, bei 13 auf dem zwei­ten Teil.

Im nächsten Untersuchungsschritt führ­te der Autor mit Wohngruppenmitarbei­tern meist den Leitern, die den be­treffenden Bewohner langjährig kannten, für jeden der 109 Fälle ein hochstruktu­riertes Interview durch. Zu den meisten Inhaltsbereichen des Interviews konnten bereits erprobte Meßinstrumente oder Teile davon benutzt werden, die sämt­lichst aus dem Englischen übersetzt wur­den: Aus der Adaptive Behavior Scale die SkalenViolent and destructive be­havior(19 Items) mit modifizierter fünfstufiger Skalierung(vonnie bis täglich) zur genaueren Erfassung der Häufigkeit der aggressiven Verhaltens­weisen,Independent functioning(47 Items) undLanguage development (19 Items) zur Erfassung von Selbsthil­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989

fefertigkeiten bzw. Sprachentwicklung. Ferner die Bereich 3840 der Skala Psychological disturbances(15 Items) zur Messung von Problemen im Umgang mit Frustration und Kritik und dem ex­tremen Verlangen nach Aufmerksam­keit.

Das Ausmaß sozialer Unterstützung konnte mit einer von Reiss& Benson (1985) entwickelten und erprobten Ska­la erhoben werden. Dieser Fragebogen besteht aus den folgenden drei Items, die jweils auf einer dreistufigen Skala (oft manchmal selten) eingeschätzt werden:

1. Verbringt Zeit mit Freunden

2. Hat enge Beziehung zu Eltern/Ange­hörigen

3. Verbringt viel Zeit allein.

Als Indikator für den Schweregrad der aggressiven Verhaltensweisen wurde die Reaktion des Personals angesehen. Ent­sprechend dem Vorgehen von Hill& Bruininks(1984) wurde nach fünf hier­archisch angeordneten Reaktionsmög­lichkeiten(vonkeine Reaktion bis Hilfe holen) gefragt.

Im Gegensatz etwa zu den USA liegen in bundesdeutschen Einrichtungen für gei­stig Behinderte in der Regel keine routi­nemäßig erhobenen Intelligenztestlei­stungen vor. Da bei einem erheblichen Teil der Untersuchungsstichprobe auf­grund der aggressiven Verhaltensproble­me ein Intelligenztest nicht sinnvoll oder nur mit einem unvertretbar hohen zeitlichen und personellen Aufwand durchzuführen gewesen wäre, mußte auf die Messung des IQ verzichtet werden. Statt dessen wurde der Grad der geisti­gen Behinderung lediglich auf einer vier­stufigen Skala(leicht mäßig schwer schwerst) eingeschätzt. Ergänzt wurde das Interview durch Fragen zu Verlauf des aggressiven Verhaltens während der letzten zwölf Monate(seltener unver­ändert häufiger) und möglichen Ursa­chen dafür. Ferner wurde gefragt nach auslösenden Reizen des aggressiven Ver­haltens(nie selten meistens) und nach den Reizen, um die es sich dabei handelt.

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