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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angelika Engelbert ­

Behindertes Kindgefährdete Familie?

Neben den besonderen Chancen, die ei­ne derart intensive Förderungsarbeit für die Kinder eröffnet, werden jedoch auch die Probleme gesehen, die für die Fami­lien aus der Dauerbetreuung eines behin­derten Kindes sowie aus den gestiegenen Ansprüchen an familiale Förderung er­wachsen. Eltern müssen nicht nur ein­malig mit der Tatsache fertig werden, ein behindertes Kind zu haben; die Fa­milie ist auch auf Dauer Belastungen ver­schiedener Art ausgesetzt, die so wird vermutet sich negativ auf die Gesamt­leistungsfähigkeit der Familie auswirken können.Ein behindertes Kind ist eine behinderte Familie, so formuliert Thimm(1974, 11) diesen unterstellten Zusammenhang von Behinderung und Familienleben. Damit sind Probleme ver­bunden, die sowohl die nichtbehinder­ten Familienmitglieder wie auch das be­hinderte Kind in massiver Weise beein­trächtigen können, wie dies am Beispiel der Mißhandlung behinderter Kinder jüngst in den USA berichtet wird(Gar­barino et al. 1987).

Die drohende Gefährdung der Familien soll so wird zumindest gefordert durch sozialpolitische Maßnahmen abge­fangen werden, die Eltern behinderter Kinder zumindest teil- und zeitweise Entlastung bieten(v. Lüpke 1977). Ge­fordert wird u.a. eine grundlegende Um­orientierung der Behindertenpolitik, bei der als Zielgruppe nicht allein der Behin­derte, sondern seine ganze Familie ein­bezogen wird(v. Ferber 1983) und Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden soll(v. Ferber& Wedekind 1984). Mit Bezug auf das behinderte Kind und seine Fami­lie wird insofern präventionsorientierte Intervention gefordert.

DasFamilienleben mit behinderten Kindern wird also wichtiger, zugleich aber auch gefährdeter und damit in be­sonderer Weise unterstützungsbedürftig so zumindest erschließt sich das The­ma in einem ersten Zugriff. Nähere Hin­weise auf den Zusammenhang von Be­hinderung, Familie und Hilfen finden sich in Forschungsarbeiten über Fami­lienbeziehungen und Behinderung, über Formen der Problembewältigung, über Umweltbeziehungen und Behinderung und über Familie und institutionelle Hil­

fen, die im folgenden einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen werden sollen.

Familienbeziehungen und Behinderung

Die Beeinträchtigung oder gar Gefähr­dung der Familie und ihrer Leistungsfä­higkeit durch die Behinderung eines Kindes ist spätestens seit der Arbeit von Farber(1959) über die Konsequenzen der Behinderung für die ganze Familie zumindest in den USA ein vielbeachte­tes Thema bei Praktikern, Theoretikern und Sozialforschern. In der Bundesrepu­blik scheinen hier noch Forschungslük­ken zu existieren. Die meisten der Stu­dien über die Situation der Familien mit behinderten Kindern sind entweder ver­altet(Blume/Windszus 1971), metho­disch unzulänglich(Bach 1979) oder aber auf andere inhaltliche Schwerpunk­te ausgerichtet(Liepmann 1979; Eggert et al. 1980; Wedekind 1985). Allerdings sind gerade im Verlauf des letzten Jahres einige sehr interessante Studien veröffentlicht worden, die einiges zur Erhellung der Problematik beitragen können(vlg. Nippert 1988, Kniel 1988, Jeltsch-Schudel 1988). Außer­dem befassen sich neben Familienthe­milienbeziehungen unmittelbar konfron­tiert werden(Mangold& Obendorf 1981), in letzter Zeit insbesondere Me­diziner und Sozialmediziner mit den Problemen, die Behinderung und chroni­sche Krankheit eines Kindes für die ge­samte Familie aufwerfen. Neben der Sorge um das kranke Kind tritt in dieser Berufsgruppe, wie bereits einleitend skizziert, nun auch die Sorge um seine Familie(vgl. Roghman 1981). Die Fülle der Beiträge einer Fachtagung über chronisch kranke Kinder und Jugendli­che in der Familie(Angermeyer& Döh­ner 1981) dokumentiert eindrucksvoll die weitreichende Befassung mit diesem Thema.

Ein Problembereich betrifft die Frage der Überlastung der elterlichen Paarbe­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989

ziehung bzw. der Gefährdung des Fort­bestandes der Ehe. Anzunehmen ist in diesem Zusammenhang u.a., daß die enormen zusätzlichen Anforderungen durch das behinderte Kind die Partner­beziehung vor neue Probleme stellen, für die die Eltern neue Lösungsmuster su­chen und auf Dauer etablieren müssen. Die betroffenen Elternpaare befinden sich offensichtlich in einem Dilemma. Zum einen steigen die Anforderungen an ‚Gemeinsamkeit, sowohl was den Aufbau einer gemeinsamen und gegen­über Umwelteinflüssen invarianten Wirk­lichkeit betrifft(hierzu Berger& Kell­ner 1965) als auch mit Bezug auf gegen­seitige emotionale Unterstützungslei­stungen. Dies gilt auch für instrumentel­le Unterstützungen und Arbeitsteilung bei der Pflege des behinderten Kindes, die einen erhöhten Koordinationsauf­wand erfordern. Zum anderen absorbie­ren die hohen Zuwendungs- und Pflege­anforderungen des Kindes gerade dieje­nigen Zeit- und Energiepotentiale, die den Eltern außerhalb ihrer normalen Verpflichtungen füreinander verbleiben würden. Hinzu kommt, daß die in der Regel ungleiche Befassung mit der Auf­gabe, ein behindertes Kind zu versorgen, weitereKeile zwischen die Partner treiben kann. So geben zwar die meisten Mütter an, daß die Unterstützung durch den Vater für sie immer noch die wich­tigste Hilfequelle bleibt(vgl. Abbot& Meredith 1986,hierzu auch Kniel 1988), das faktische Ausmaß der Väterbe­teiligung und damit der Aufteilung der Pflegeaufgaben zwischen den El­tern scheint sich jedoch in Grenzen zu halten. Den größten Teil der anfallenden Arbeiten übernehmen die Mütter, die häufig rund um die Uhr ‚im Einsatz sein müssen(Wilkin 1979, 190; Cooke& Lawton 1984; Socialdata 1980). Die Tatsache, daß es sich also eher um Frauenpflege als umFamilienpflege handelt(Carey 1982) bedeutet nicht nur, daß hier zusätzliche Konfliktpoten­tiale liegen, sondern auch, daß die Bezie­hung zum behinderten Kind und die in­dividuelle Prioritätensetzung bei der Be­ziehungspflege zwischen den Partnern unterschiedlich ausfallen, wie dies auch einige Erfahrungsberichte betroffener

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