Angelika Engelbert
Behindertes Kind—„gefährdete‘‘ Familie?
Mütter eindrucksvoll schildern(vgl. Zeile 1988).
Dementsprechend finden wir in der Literatur Hinweise darauf, daß die eheliche Qualität in den gefährdeten Familien abnimmt und höhere Scheidungsraten zu erwarten sind(Price-Bonham& Addison 1978; Friedrich& Friedrich 1981; Featherstone 1980). Dem stehen jedoch auch andere Befunde gegenüber. Abbott& Meredith(1986) fanden keine Unterschiede zwischen Familien mit behinderten und Familien mit nichtbehinderten Kindern hinsichtlich ehelichen und familialen Zusammenhaltes. In der Studie von Dunlap& Hollinsworth (1977) äußerten die meisten Befragten, die Behinderung hätte ihre Ehe nicht beeinflußt und von denen, die Veränderungen konstatiert hatten, meinten über die Hälfte, es wären eher positive Effekte gewesen. Auch in der neuen Studie von Nippert(1988) finden wir keine Bestätigung des Musters einer schweren Familienstörung.
Ein weiterer problematischer Bereich der Familienbeziehungen wird für die Geschwister behinderter Kinder unterstellt. Zurückzuführen ist dies nach McKeever (1983) u.a. darauf, daß aufgrund der höheren Belastung der Eltern Geschwisterkinder mehr Haushaltspflichten übernehmen müssen. Sie sind mit zunehmendem Alter eine immer wichtiger werdende„Ressource‘‘ für die Familie (Wilkin 1979, 101) und sind ihrerseits ähnlich von Überlastung bedroht wie die Eltern. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß ganz besonders die Schwestern der behinderten Kinder als potentielle Problemgruppe gesehen werden(Gath 1972). Hinzu kommt, daß die Geschwisterkinder ihre häufig überlasteten Eltern unterstützen müssen, und auf diese Weise entstehen nicht selten„typische Beziehungskonstellationen‘‘(Mangold& Obendorf 1981, 16), die sich insgesamt als problematisch für die ganze Familie, besonders aber für die betroffenen Geschwisterkinder auswirken können. Aufgrund der häufig mit Priorität berücksichtigten besonderen Bedürfnisse eines behinderten Geschwisterkindes kann emotionale Vernachlässigung durch die Eltern stattfinden bzw. können dau
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erhafte Schuldgefühle oder Ressentiments bei den nichtbehinderten Kindern verbleiben. In einer frühen Explorationsstudie von Grossman(1972), der betroffene College-Studenten befragte, um die Effekte geistiger Behinderung eines Familienmitgliedes auf die ‚normalen‘ Geschwister zu untersuchen, wurden viele „geschädigte‘‘ Studenten ermittelt:„We also found many students, who seemed damaged: students who were bitterly resentful of the family’s situation, guilty about their rage at their parents and at the retarded sibling, fearful that they themselves might be defected or tained, sometimes truly deprived of the time and resources they needed to develop because every support the family had to give was used in the care of the handicapped child.‘(Grossman 1972, 176) Allerdings waren viele der Befragten durch die Erfahrung mit einem behinderten Geschwister auch psychisch„gewachsen‘. Ähnliche Ergebnisse sind auch bei Iles(1979) festzustellen. Geschwister von krebskranken Kindern waren hier toleranter, geduldiger und einfühlsamer gegenüber ihren Eltern als andere Kinder. So muß festgehalten werden, daß, wenn auch der Trend der Aussagen dahin geht, daß die Geschwister behinderter Kinder als„Risikogruppe“ anzusehen sind(McKeever 1983), die empirischen Ergebnisse keineswegs einheitlich sind.
Ein wesentliches Problem der meisten Studien liegt darin, daß entweder keine Veränderungsmessung im strengen methodischen Sinne erfolgt, oder aber, daß keine Kontrollgruppen in der Analyse berücksichtigt werden, so daß der unterstellte Wirkungszusammenhang letztlich nicht angemessen erforscht werden kann.
Insgesamt beschränkt sich die Forschung über die Einflüsse der Behinderung eines Kindes in der Regel auf dyadische Beziehungen oder auf Einzelpersonen und berücksichtigt kaum solche Eigenschaften der Familie als„soziales System“, von denen Einfluß auf die Gesamtleistungsfähigkeit der Familie ausgehen könnte.
Formen der Problembewältigung
Die Geburt eines offensichtlich behinderten Kindes oder die Diagnostizierung einer Auffälligkeit als dauerhafte Behinderung bringt für die betroffenen Eltern massive Probleme mit sich(vgl. Kazak& Marvin 1984, 71). Diese Probleme betreffen nicht nur die Sorge um Gesundheit und Wohlbefinden ihres Kindes, sondern auch die Antizipation und Erfahrung neuer Aufgaben und Belastungen und die notwendige Neudefinition der Elternrolle sowohl in instrumentelltechnischer wie auch in emotional-expressiver Hinsicht(vgl. Thimm 1974). Balzer& Rolli(1975) sprechen in diesem Zusammenhang von„permanenter“‘ und„traditionsloser‘‘ Elternschaft und heben damit die zeitlich unbegrenzte Verantwortung für ein(zumindest schwer körperlich oder geistig) behindertes Kind sowie die Notwendigkeit der Erarbeitung neuer Leitbilder für die Eltern hervor. Der Prozeß der individuellen Bewältigung des„traumatischen Erlebnisses‘‘, des ‚massiven Schocks‘‘ (Scheel 1984), muß als eine zentrale Voraussetzung etwa für die Vermeidung von individuellem Streß bzw. dauerhaften Schuldgefühlen(Cholschreiber 1980) und für die spätere Möglichkeit, im Umgang mit der Umwelt erwünschte Ressourcen zu erhalten, gesehen werden (Voysey 1972).
Wikler et al.(1981, 63) verweisen auf folgende— in der Literatur vorfindliche — idealtypische Abfolge von Phasen: Schock, Verzweiflung, Schuld, Rückzug, Akzeptierung und Anpassung. Sie kritisieren jedoch gleichzeitig diese Darstellungsweise und sprechen ihrerseits von periodisch wiederkehrendem Streß und Traurigkeit(ebd., 68).
Insbesondere in qualitativ angelegten Studien mit verhältnismäßig kleinen Fallzahlen wird eine Annäherung an die Rekonstruktion eines solchen Bewältigungsprozesses versucht. So beschreibt Booth(1978), der 46 Familien geistig behinderter Kinder untersuchte, die allmähliche Annäherung an den Gedanken der„Unnormalität‘‘ des Kindes. Behinderte Kinder werden so lange von den Eltern als ‚normal‘ erlebt und behandelt,
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989