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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angelika Engelbert ­

Behindertes Kindgefährdete Familie?

wie die Diagnose noch nicht endgültig feststeht. Diese Relevanz einer endgülti­gen Diagnose für den Beginn der indivi­duellen Bewältigung wird auch in einer neueren bundesdeutschen Studie betont. Weisgerber-Soininen et al.(1984), die 95 Mütter entwicklungsverzögerter Kin­der befragten, identifizierten darüber hinaus zwei Phasen der Problemverarbei­tung vor der Auseinandersetzung mit der Behinderung: zunächst erfolgte eine maximale Streßreaktion und darauf die Phase der Akzeptierung und Zuwendung zum Kind. In den Fällen, in denen eine sichere Diagnose nicht möglich war, war auch das Ende der Streßreaktion nicht eindeutig bestimmbar. Darling(1979), die 25 Familien vonoffenkundig be­einträchtigen behinderten Kindern un­tersuchte, beschreibt die Phase der Re­aktion auf den ersten Schock alsZu­stand der Anomie*, dem eine Such- und Aktivierungsphase folgt, in der die El­tern zunächst die Diagnose und dann Hilfe und Unterstützung suchen. Betrof­fene Eltern werden hier alsForscher oderUnternehmer im Interesse ihres Kindes beschrieben. Aktivismus kann nach Darling(1979, 221 ff.) allerdings in unterschiedlichen Zuständen münden, die mit den BegriffenDaueraktivität, Kreuzrittertum undfatalistische Anpassung charakterisiert werden.

Es sind nicht nur die unterschiedlichen, auf den ersten Schock folgenden Anpas­sungsphasen, die bislang Gegenstand der Forschung waren. Auch unterschiedli­che Dimensionen familialer Bewälti­gungsmuster werden seit einiger Zeit un­tersucht. Venter(1980), der 100 Fami­lien mit Kindern untersuchte, die an cy­stischer Fibrose litten, ermittelte zwei Typen vonCoping-Strategien, die sich als besonders günstig für die dauerhafte Bewältigung der Situation herausgestellt haben:

Aufteilung der Belastungen auf meh­rere familiale und außerfamiliale Per­sonen und

ein breiter philosophischer oder reli­giöser Interpretationsrahmen, mit des­sen Hilfe die eigene Situation faßbar werden kann(hierzu auch Sanderson/ Crawley 1982, Abbott/Meredith 1986).

McCubbin et al.(1983) arbeiten mit drei Dimensionen individueller Coping­Strategien, die sie über faktorenanalyti­sche Berechnungen isoliert haben:

Aufrechterhaltung familialer Integra­tion und Kooperation und optimisti­sche Situationsbeschreibung,

Aufrechterhaltung von Selbstwert und psychischer Stabilität sowie so­zialer Unterstützung,

Gewinnung eines Verständnisses der medizinischen Situation durch Kom­munikation mit Fachleuten und an­deren betroffenen Eltern(vgl. hierzu auch Nippert 1988).

Die Untersuchung von McCubbin et al. stellt insofern eine Ausnahme dar, als sie anders als die zitierten qualitativen Studien auch Zusammenhänge zwi­schen dem elterlichen Coping-Verhalten und solchen familialen Systemeigen­schaften untersucht und auch feststellt, die die dauerhafte Funktionsfähigkeit von Familien erleichtern. Allerdings fehlt hier eine theoretisch begründete Auswahl von Coping-Mustern und vor allem eine saubere Trennung zwischen solchen Coping-Mustern und dauerhaf­ten familialen Systemeigenschaften. Dies gilt auch für Mink et al.(1983), die versuchen,basic family life-style pat­terns bei Familien mit behinderten Kin­dern zu identifizieren. Da anzunehmen ist, daß auch die Wahl angemessener Co­ping-Strategien von familialen Systemei­genschaften beeinflußt. ist, und ein Längsschnittdesign, mit dem dieses Pro­blem zu lösen wäre, von ihnen nicht an­gewandt wird, können auch McCubbin et al. nicht die Frage nach den Bedin­gungen familialer Gefährdung hinrei­chend beantworten. Die Autoren halten dennoch resümierend fest: Für die El­tern behinderter Kinder ist es wichtig +. to balance this concentrated care with personal investments in themselves as individuals, in the family as a whole and in their understanding of the medi­cal situation(1983, 368). Sie ziehen daraus den wichtigen Schluß, daß elter­liches Coping-Verhalten ein relevantes Ziel sozialpolitischer Intervention ist und daß es dadurch möglich wäre, in das Familienleben einzugreifen, bevor ein

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989

Problem manifest ist(ebd., 367). Damit sprechen sie jedoch gleichzeitig ein wichtiges Desiderat der Forschung zu in­dividuellen Bewältigungsstrategien bzw. zu sozialer Intervention an, denn ob und wie hierauf Einfluß zu nehmen ist, ist bislang noch nicht systematisch unter­sucht worden.

Umweltbeziehungen und Behinderung

Daß Familien keineisolierten Einhei­ten im gesellschaftlichen Gefüge sind, sondern vielmehr in hohem Maße auf Leistungen ihrer Umwelt angewiesen sind, um die ihnen übertragenen Aufga­ben erfüllen zu können, gilt als bekannt (vgl. hierzu auch Kaufmann et al. 1980; Tyrell 1979; Strohmeier 1983). Fami­lien benötigenRessourcen, die sie in Austauschprozessen mit ihrer sozialen Umwelt erhalten und die im Familienall­tag eingesetzt und gebraucht werden. In der vornehmlich anglo-amerikani­schen sozialepidemiologischen For­schung gilt seit einigen Jahren ein be­sonderes Interesse der RessourceNetz­werkbeziehungen, die als wichtig für die individuelle Streßbewältigung ange­sehen wird(vgl. hierzu Kaufmann et al. 1987, 21 ff.). Auch in der familiensozio­logischen Forschung ist die Ressource Soziale Unterstützung ein wesentli­cher Faktor, der zur Bewältigung einer Krise und zur Verhinderung von Streß beiträgt(vgl. hierzu Hansen& Johnson 1979).

Für Familien mit behinderten Kindern ergibt sich eine prekäre Situation: Sie benötigen einerseits aufgrund eines be­sonderen Belastungspotentials mehr Hil­fe als andere Familien, haben anderer­seits jedoch auch größere Probleme bei der Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Letzteres ergibt sich nicht zuletzt aufgrund der landläu­fig reservierten Haltung gegenüber Be­hinderten(vgl. hierzu Cloerkes 1982). So stellte auch Christiansen-Berndt (1981, 127) in einer österreichischen Untersuchung über Vorurteile gegenüber geistig behinderten Kindern fest, daß

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