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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angelika Engelbert ­

Behindertes Kindgefährdete Familie?

nichtbetroffene Eltern, Allgemeinpäd­agogen und bis zu einem gewissen Grad sogar Sonderschullehrer sich ablehnend, voller Scheu und Furcht, mit großer so­zialer Distanz und schlecht informiert zeigten.Bei allen Gruppen wird das Bild des schwer geistig behinderten Kin­des auf die Familien übertragen, völlig normale Menschen werden wegen eines behinderten Familienmitgliedes in glei­cher Weise ebenfalls als normabwei­chend ‚etikettiert(ebd.). Entspre­chend sah diese Personengruppe auch die Familien als äußerst einsam, bedau­ernswert und ungesellig an. Dies trifft in ähnlichem Maß auf körperbehinderte Kinder zu. In einer älteren Studie von Jansen(1976) waren 62% der befragten Personen der Meinung, daß man Eltern gut verstehen kann, die ihr körperbehin­dertes Kind vor der Öffentlichkeit ver­stecken, und 63% waren teilweise oder ganz der Ansicht, daß Körperbehinderte am besten in einem Heim aufgehoben sind. McAndrew(1976) stellte bei den betroffenen Familien das Gefühl fest, daß die Behinderung des Kindes ihre Be­ziehung zur Familie und zu Freunden beeinträchtigt.

Nicht nur die problematische Einstel­lung der Umwelt, sondern aller Wahr­scheinlichkeit nach auch die Belastung durch das Kind, das viele Kräfte bindet, führt dazu, daß Familien mit behinder­ten Kindern ein kleineres Netzwerk als andere haben(Kazak& Wilcox 1984). Allerdings ist die Interaktionsdichte in diesen kleinen Netzwerken besonders hoch(vgl. Kazak& Marvin 1984, 72). Nach Barrera(1981) ist es generell weni­ger die Größe des Netzwerkes, die emo­tionales Wohlbefinden(und im übrigen auch das Eltern-Kind-Verhältnis) beein­flußt, als vielmehr die Zufriedenheit mit der erhaltenen Unterstützung. Doch auch in diesem Zusammenhang taucht des öfteren die Warnung davor auf, den Beitrag dercommunity care überzu­bewerten. Soziale Unterstützung durch Verwandte, Freunde und Nachbarn spielt offensichtlich in ihrer faktischen Ausprägung eine nur untergeordnete Rolle(Wilkin 1979; Cooke& Lawton 1984; Carey 1982), eine Feststellung, die sich im übrigen auch in den wenigen

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bundesdeutschen Studien finden läßt (Wedekind 1985, 262; Mohr et al. 1979, 192). Allerdings finden wir kaum Anga­ben über Bedingungen der Netzwerkun­terstützung für Familien mit behinder­ten Kindern. Dennoch erfüllt auch für Familien mit behinderten Kindern die ‚Netzwerkunterstützung eine wichtige Puffer-Funktion(Dunst et al. 1987). Nach Crnic et al.(1983b) stellt die Ge­burt und Erziehung eines behinderten Kindes ein Set von Bedingungen dar, das entweder positive oder negative Konse­quenzen haben kann, je nachdem, ob adäquate informelle Unterstützung ver­fügbar ist. Dunst et al.(1987, 34 ff.) er­mittelten, daß interfamiliale und infor­melle Unterstützung die größte Rolle bei der Minderung des negativen Effektes des Schweregrades kindlicher Behinde­rung spielt.These results suggest that social support may act as a moderating variable buffering parents from the nega­tive results associated with rearing a handicapped child(ebd., 34). Einen ähnlichen Effekt stellt auch Kniel(1988, 35) in seine Untersuchung fest.

Eine ähnlich gelagerte Problematik ist mit Bezug auf die familialen Beziehun­gen zur Arbeitswelt zu vermuten. Auch hier gilt, daß die betroffenen Familien aufgrund der erhöhten Pflege- und Aus­stattungserfordernisse einen besonderen Bedarf an finanziellen Ressourcen ha­ben, der allein über sozialpolitische Transferleistungen kaum abgedeckt wird. Ebenfalls ist anzunehmen, daß sich für die Eltern behinderter Kinder die Be­deutung von Außenkontakten, über die soziale Anerkennung und Anregungen erzielt werden können, erhöht. Dem steht jedoch gegenüber, daß die beson­deren Betreuungserfordernisse eine Er­werbstätigkeit beider Elternteile in aller Regel verunmöglichen. Dies trifft wie es der vorherrschenden Rollenaufteilung in unserer Gesellschaft entspricht zu­meist die Frauen. Die Quote berufstäti­ger Mütter ist in der Gruppe der Fami­lien mit behinderten Kindern so auch besonders gering(Mohr et al. 1979; We­dekind 1985, 245 ff.). Anders als bei der Thematik sozialer Unterstützung finden wir zur Frage nach der Bedeutung und den Bedingungen mütterlicher Erwerbs­

tätigkeit in Familien mit behinderten Kindern in der Literatur jedoch kaum weiterführende Informationen. Breslau et al.(1982) befragten 369 Familien mit körperlich behinderten Familienmitglie­dern zu diesem Thema. Hier wurden nachhaltige Unterschiede hinsichtlich der Erwerbstätigkeit nach sozio-ökono­mischen Faktoren festgestellt. In farbi­gen Familien und in Familien mit nied­rigem sozio-ökonomischem Status sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß Mütter be­hinderter Kinder erwerbstätig sind, in Familien mit hohem Status steigt sie da­gegen an. Dies ist erklärbar durch die besseren Möglichkeiten der höheren Schichten, flexible Büroarbeiten und Teilzeitjobs zu erhalten und auf diese Weise Erwerbstätigkeit und die Pflege des Kindes zu vereinbaren und entspre­chende Hilfen bezahlen zu können. In den unteren Schichten ist dagegen eine Entscheidung zwischen konfligierenden Anforderungen erforderlich, die offen­sichtlich häufiger zugunsten des behin­derten Kindes ausfällt.

Familie und institutionelle Hilfen

Wie bereits einleitend geschildert, sollen die öffentlichen Hilfemaßnahmen nicht nur der Förderung der behinderten Kin­der, sondern auch der Unterstützung ih­rergefährdeten Familien dienen. In der BRD stoßen die betroffenen Fami­lien bereits bei der Suche nach Hilfe in der Regel auf eine grundsätzliche Schwierigkeit: die Struktur des Systems der Hilfen für Behinderte ist uneinheit­lich und in vielfältige Rechtsgrundlagen, Zuständigkeiten und Träger zersplittert. Diese Besonderheit der hiesigen Situa­tion bedingt, daß ausländische Studien für den anstehenden Zusammenhang nur bedingt aussagekräftig sind. Im deutsch­sprachigen Raum finden wir jedoch nur eine äußerst begrenzte Informationslage. Die meisten der wenigen Studien be­schränken sich auf deskriptive Analysen zur Situation und zur Belastung von Fa­milien mit behinderten Kindern. Sozial­politische Unterstützungsleistungen wer­den dort entweder nur am Rande oder

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989