Angelika Engelbert
Behindertes Kind—„gefährdete‘‘ Familie?
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gar nicht thematisiert. Eine Ausnahme stellt hier die Arbeit von Wedekind (1985) dar, der die Familien von 281 geistig behinderten Kindern in der Region Oldenburg befragte. Er stellte z.B. fest, daß nur ca. 60% der Familien finanzielle Hilfe erhalten(davon weniger als die Hälfte mehr als 300,— DM pro Monat) und daß die Inanspruchnahme der Leistungen schichtspezifisch differierte.
Nur eine Minderheit von 10% der Kinder— in der Regel diejenigen mit einem höheren Schweregrad der Behinderung — waren den ganzen Tag zu Hause und besuchten keine Tageseinrichtung. Wedekind fragte auch nach den besonderen Belastungen und nach dem Bedarf an zusätzlichen Hilfen. Solche spezifischen Belastungen ergaben sich für die Familien vor allem dann, wenn das behinderte Kind nicht allein gelassen werden konnte und deshalb bei kurz- oder längerfristiger Abwesenheit der Betreuungsperson ein ‚Ersatz‘ beschafft werden mußte(etwa bei Krankheit der Mutter, Einkäufen,—Freizeitaktivitäten am Abend). Dieser Faktor begründet gleichzeitig auch den besonderen Bedarf an zusätzlichen Hilfen. Die Familien treffen bei den genannten Situationen in den meisten Fällen private Arrangements(Geschwister oder Verwandte übernehmen die Betreuung). Ein großer Teil der Befragten ist mit dieser Lösung jedoch unzufrieden und wünscht sich öffentlich finanzierte Hilfen, wobei eine Fachkraft, die ins Haus kommt, bevorzugt wird(1985, 262 ff.). Dies scheint ein durchgängiges, bislang offensichtlich noch nicht befriedigtes Bedürfnis in Familien mit behinderten Kindern zu sein. Nach Fröhlich(1988) sind für die Bewältigung familialer Probleme insbesondere qualifizierte psychosoziale Hilfen notwendig.
Insgesamt scheinen mobile Hilfen für den betroffenen Personenkreis von besonderer Bedeutung zu sein. Dies muß auch als Ausdruck der Probleme und Kostenfaktoren gesehen werden, die aufgrund der institutionellen und räumlichen Zersplitterung des Problems im gegliederten System der Hilfe entstehen. Frank et al.(o.J., 37 ff.), die im Rah
men der DJI-Studie zur„Integration von Kindern mit besonderen Problemen“‘ auch Leitfaden-Interviews im Raum Reutlingen durchführten, stellten fest, daß die Eltern es meist mit einer Vielzahl von Ämtern, Einrichtungen und Maßnahmen zu tun haben, was einen enormen Organisatorischen Aufwand und Koordinationsarbeiten nach sich zieht, die neben den ‚normalen‘ Haushalts- und Erziehungspflichten sowie neben den Pflegetätigkeiten verrichtet werden müssen. Von Bronder(1979) erhalten wir den wichtigen Hinweis darauf, daß Versorgungsdefizite und insofern die zu hohen Kosten der Inanspruchnahme weiter entfernt liegender Einrichtungen(vor allem auf dem Lande) die Eltern bei der Entscheidung für die Heimeinweisung ihres behinderten Kindes beeinflussen. Ansonsten finden sich nur recht plakative Gründe für die Heimunterbringung der Kinder. Immerhin stellen mehrere Studien für die Bundesrepublik übereinstimmend fest, daß behinderte Heimkinder eher aus„gestörten Familienverhältnissen‘‘ sowie aus den unteren Sozialschichten kommen(Török 1977, 199; Liepmann 1979, 115 ff.; Dittmann 1978).
In Anbetracht des hohen Stellenwertes, der der Familienbetreuung behinderter Kinder beigemessen wird, und vor allem vor dem Hintergrund eines offensichtlich hohen Problembewußtseins für die Belastung und ‚Gefährdung‘ der Familien verwundert es, daß Untersuchungen zu Bedingungen der Inanspruchnahme von Hilfen und ihrer bedürfnisentsprechenden Integration in den Alltag ebenso wie zu den faktischen Entlastungsund dauerhaften Stützeffekten für die Familien fast vollständig fehlen. Es ist aller Voraussicht nach die zeitliche und lokale Flexibilität der Hilfen und damit ihre Integrierbarkeit in den Familienalltag, an der ihr Entlastungspotential zu bemessen ist. Im Hinblick auf mobile Dienste, aber auch auf eine teilstationäre und zeitweise Unterbringung sind für Familien wichtige Voraussetzungen der Alltagsbewältigung zu suchen. Auf diesem Gebiet scheint die Bundesrepublik zumindest der Entwicklung in den USA nachzustehen. Dort werden— gerade im
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989
Zusammenhang mit der Unterstützung der Familien— neue Programme zeitweiser Entlastung(respite care)(Joyce & Singer 1983) durchgeführt bzw. in der Tat mobile„health visitors‘‘(Cunningham et al. 1982) eingesetzt. Über„parent support groups‘(Holland& Hattersley 1980) oder„family support units“(Goddard& Rubissow 1977) sollen gemeindenahe Hilfen für Eltern angeboten werden. In diesem Zusammenhang werden auch ansatzweise Auswirkungen der Inanspruchnahme solcher Dienste auf die Familie und ihre Leistungsfähigkeit untersucht(hierzu Cohen 1982). Deutlich wird, daß sich die Zufriedenheit der Eltern, ihr Vertrauen in die Zukunft, ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Kind sowie ihre Einstellung zum Kind verbessern, wenn eine zeitweise Entlastung möglich ist. Über die Hintergründe und Bedingungen nicht nur der Inanspruchnahme, sondern auch der familienunterstützenden Funktionen solcher flexiblen Hilfen für die Problemgruppe wissen wir jedoch nach wie vor zu wenig.
Resümee
Zusammenfassend sollte festgehalten werden, daß der Schwerpunkt bisheriger Forschung zum Thema„Familienleben mit behinderten Kindern“ auf dem versuchten Nachweis einer Gefährdung der Familie durch die Behinderung liegt. Diese einseitige, problemzentrierte Sichtweise bezieht sich sowohl auf innerfamiliale Beziehungsaspekte wie auch auf familiale Umweltbeziehungen. Die empirischen Ergebnisse scheinen diesen Zusammenhang jedoch nur ansatzweise zu bestätigen. Wir finden sowohl Hinweise auf Beeinträchtigungen der Familie als auch positive Entwicklungen aufgrund der Erfahrung mit Behinderung(vgl. auch Abbott& Meredith 1986, 403; Cole 1986, 229). Solche offensichtlich existierenden Unterschiede hinsichtlich der erfolgreichen Bewältigung des Problems werden jedoch kaum weiterverfolgt. Erst ansatzweise wird mittlerweile auch nach unterschiedlichen familialen
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