ist in erster Linie versorgend und pädagogisch. Zusätzlich kann— vor allem für Jugendliche mit ernsthaften Problemen— Hilfe therapeutischen Charakters geboten werden. Die Erziehung in Fürsorgeheimen findet in Wohngruppen statt. Die Wohngruppe kann als Ersatz für das primäre Milieu des Jugendlichen gesehen werden und ist im wesentlichen der Familie ähnlich. In diesen Wohngruppen ist die Betreuung den Gruppenerziehern übergeben. Das Erziehungsverhältnis zwischen Gruppenerziehern und Jugendlichen stimmt zum Teil mit dem zwischen Eltern und Jugendlichen überein. In wesentlichen Punkten aber gibt es Unterschiede, von denen wir im folgenden die wichtigsten nennen werden. Die Struktur der Wohngruppe unterscheidet sich von der der Familie. Das ist schon auf den ersten Blick zu erkennen. Wohngruppen sind im Durchschnitt viel größer als Familien, obwohl in der Fürsorge schon seit Jahren kleinere Wohngruppen befürwortet werden. Ein Plädoyer, das um so mehr Sinn hat in einer Zeit, wo die Größe der Familie stark abgenommen hat.
Die Zusammensetzung der Wohngruppe ist anders als die der Familie(wenn man auch oft die Familie in dieser Hinsicht zu imitieren versucht). So ist der Altersunterschied zwischen den Jugendlichen geringer als in der Familie gewöhnlich der Fall ist, und wohnen in der Wohngruppe— im Gegensatz zur Familie, wo das Verhältnis Jungen-Mädchen im Durchschnitt der Bevölkerung im Gleichgewicht ist— mehr Jungen als Mädchen. Das ist darauf zurückzuführen, daß mehr Jungen als Mädchen in Fürsorgeheimen untergebracht werden. Wichtiger als die oben genannten Unterschiede ist der Unterschied zwischen Erziehungsverhältnissen. Bei Eltern und Jugendlichen ist das Erziehungsverhältnis ein Teil ihres persönlichen Verhältnisses, das im Grunde„fürs Leben“ gilt. Dieses Erziehungsverhältnis entwickelt sich allmählich im Laufe der Zeit. Das Erziehungsverhältnis innerhalb der Wohngruppe hat einen viel kurzfristigeren Charakter. Es wird zu einem bestimmten Zeitpunkt ziemlich abrupt angefangen und oft nicht weniger abrupt abgebrochen. Letzteres erfolgt,
H.L.W. Angenent+ Fortlaufen von Jugendlichen aus Fürsorgeheimen
wenn ein Gruppenerzieher die Stellung wechselt. Auch die Zusammensetzung der Wohngruppe ist veränderlich, weil Jugendliche dort unterschiedlich lange wohnen. Kurz: die Wohngruppe wird mehr als die Familie durch Diskontinuität gekennzeichnet.
Aber auch im durchschnittlichen Alltag herrscht eine bestimmte Diskontinuität im Verhältnis zwischen Gruppenerziehern und Jugendlichen, weil die Gruppenerzieher nur dann anwesend sind und zur Verfügung stehen, wenn sie Dienst haben. Folglich hat der Jugendliche mit einem Team von Gruppenerziehern zu tun. Die Verhältnisse mit den einzelnen Gruppenerziehern können ziemlich unterschiedlich sein.
Die Möglichkeiten der Gruppenerzieher sind beschränkter als die der Eltern. Namentlich entbehren sie die natürliche Position der Eltern. In unserer Gesellschaft wird nun mal die Familie als primär und die Wohngruppe als sekundär angesehen. Dadurch fehlt den Gruppenerziehern unter anderem die Autorität und das selbstverständliche Übergewicht der Eltern. Der Gruppenerzieher muß sich nachdrücklich und wiederholt als Erzieher zeigen. Hindernisse dabei sind die oft geringeren Altersunterschiede zwischen Gruppenerziehern und(vor allem älteren) Jugendlichen und die relativ geringere Erfahrung auf vielen Gebieten(‚Lebenserfahrung‘).
Das Erziehungsklima innerhalb der Wohngruppe wird anhand der bereits besprochenen Erziehungsdimensionen Wärme und Dominanz beschrieben. In einer warmen Erziehung versucht der Gruppenerzieher, einen guten persönlichen Kontakt mit den Jugendlichen herzustellen. Er akzeptiert die Jugendlichen so wie sie sind und versucht, mit ihnen eine vertrauliche Beziehung aufzubauen. Er berücksichtigt die Wünsche und Bedürfnisse der Jugendlichen und ist gefühlsmäßig auf sie bezogen. In einer kalten Erziehung dagegen bringt der Gruppenerzieher den Jugendlichen wenig Interesse entgegen und verhält sich gleichgültig. Er hat nur wenige Kontakte zu den Jugendlichen und sie interessieren ihn im Grunde nicht sonderlich. In einer dominanten Erziehung ist der Gruppen
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XV, Heft 2, 1989
erzieher dazu geneigt, sich mit vielem von dem(fast allem), was die Jugendlichen betrifft, einzumischen. Er gestattet den Jugendlichen wenig individuelle Verantwortung und Freiheit. Gehorsam und Gefügigkeit werden benachdruckt. In einer nachgiebigen Erziehung gibt der Gruppenerzieher den Jugendlichen die Möglichkeit, sich zu äußern und selbständig etwas zu unternehmen.
Was die Wärme in der Erziehung betrifft: Die Wohngruppe scheint infolge ihrer Struktur und vor allem der beschränkten Möglichkeiten der Gruppenerzieher weniger Chancen für die Entwicklung warmer Beziehungen zu vermitteln. Das kostet nämlich Zeit und Energie, die den Gruppenerziehern oft fehlen. Jugendliche bekommen daher keine optimale individuelle Aufmerksamkeit, wie sie diese brauchen. Auch die Diskontinuität innerhalb der Wohngruppe erschwert die Entwicklung einer warmen Beziehung. Beziehungen, die aufgebaut werden, müssen wieder abgebaut werden bevor sie richtig aufblühen. Es ist in diesem Zusammenhang wohl eher von einem Abbruch als von einem Abbau die Rede. Für die Gruppenerzieher, und nicht weniger für die Jugendlichen, kann durch diese wiederholten Abbrüche der Beziehungen eine bestimmte, abwartende Distanz entstehen, die der Entwicklung warmer persönlicher Beziehungen im Wege steht. Was die Dominanz in der Erziehung betrifft, hat es den Anschein, daß Struktur und Möglichkeiten der Wohngruppe eine dominante Haltung der Gruppenerzieher fördern. Durch die Größe und die geringe Dauerhaftigkeit der Gruppen(die große Durchströmung) erhalten Ordnung und Ruhe viel Nachdruck. Die Jugendlichen werden nicht so sehr wie Individuen, sondern vielmehr wie Gruppenmitglieder behandelt.
Die Erziehung im Zusammenhang mit dem Fortlaufen
In der Literatur zum Fortlaufen aus Familien wird gelegentlich die Beziehung zwischen dem Fortlaufen und der Erziehung thematisiert. Es zeigt sich, daß das
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