Hansjosef Buchkremer* Töten und Tabu
zu verletzen. Anders beim Menschen: „Homo hominis lupus.‘— Aber zugleich und dennoch eröffnet sich erst im Menschen die Chance des Bewußtseins, gewollt Artgenosse und Freund zu sein. Und weiter: Auf der Basis des neuen Tabus ließe sich ein nächstes erringen: Tiere pflegen ihren eigenen ökologischen Haushalt und den ihrer Mitlebewesen in der Regel nicht zu stören, noch weniger zu zerstören. Homo tut dies. Obwohl er die Katastrophe sieht, gelingt es ihm nicht, sich selbst als Verursacher zurück zunehmen. Was wir deshalb brauchen, ist Hoffnung und Arbeit für ein weiteres Tabu, das nach der Verantwortung für das Ich(Inzest-Tabu) und der für unsere Art(Tötungs-Tabu) auch die für die Artengemeinschaft(Öko-Tabu) bewußt macht.
Wenn dies homo sapiens gelingt— ich denke, wir brauchen dazu Äonen an Geduld und Anstrengung— wird er die PERSONA sein, als die er sich so gern wahrnimmt.
Das Wort Persona leitet sich nach Jakob Grimm ab von lat. per und sonare, und „bedeutet ursprünglich, die den ganzen Kopf des Schauspielers bedeckende Maske mit trichterförmiger Mundöffnung und Verstärken der Stimme, sodann die darzustellende Rolle des Schauspielers, das von ihm darzustellende oder dargestellte Individuum.“(Vielleicht ist diese Wortdeutung trotz der hohen Autorschaft nur„volksethymologisch“, indem das ursprüngliche etruskische Wort „phersu“= Maske lateinisch nachempfunden wird. Trotzdem bliebe sie abendländisch bedeutungsvoll.)
Insbesondere die Verstärkung der Stimme für die darzustellende Rolle lenkt den Blick auf die mögliche Rolle des Menschen im Kosmos: Homo sapiens hat im Ganzen des Kosmos die Chance
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und Aufgabe, das zur Sinneinheit strebende Ganze in eigene und kosmische Bewußtheit zu nehmen. Hier ist Teilhard de Chardin zu erwähnen, der uns eine zugleich philosophische, naturwissenschaftliche und theologische Perspektive eröffnet hat, solche kosmische Perspektiven wahrzunehmen.
Konkret auf das umfassende Problem zwischen dem Menschen und anderen lebenden Arten bezogen, kommt der bereits zitierte L&vi-Strauss bereits 1971 auf einem Symposium der UNESCO zu folgenden Aussagen:„... die Achtung gegenüber den eigenen Artgenossen, die wir vom Menschen erwarten, ist lediglich ein Einzelaspekt der allgemeinen Achtung vor allen Formen des Lebens. Indem der westliche Humanismus den Menschen von der übrigen Schöpfung isoliert und die Grenzen, die ihn von anderen Lebewesen trennen, zu eng zieht, hat er ihn eines Schutzschildes beraubt. Wie die Erfahrung der vergangenen Jahrhunderte und der Moderne zeigt, hat er ihn schutzlos gegenüber Angriffen aus der Festung selbst gelassen. Die westliche Kultur hat es zugelassen, daß bestimmte Teile der Menschheit anderen Teilen die Menschenwürde verweigern, wobei sie vergessen, daß der Mensch, wenn er Achtung verdient, dies als leben diges Wesen tut und nicht als Herr und Meister der Schöpfung‘“(UNESCODIENST 3/1979, 15).
Es fällt auf: L&vi-Strauss erwartet vom Gedanken der Schonung und des Schutzes der anderen Arten einen zusätzlichen Schutz für die Schwächeren, denen„innerhalb der Festung“ z.Zt. die Menschenwürde verweigert wird. Die Tooleysche Argumentation und ihre Wiedergabe bei Anstötz scheint im Bilde L6viStrauss’ eine solche innerhalb der Festung zu sein, soweit es um die Bedro
hung behinderten menschlichen Lebens geht. Was den Einschluß„personaler“ Tiere in den Lebensschutz betrifft, versucht sie allerdings relativ unbestrittene Festpunkte auch außerhalb der Festung zu sichern. Ich könnte mich auch dieser Stoßrichtung anschließen, wenn sie nicht mit dem paradoxen Verzicht des Lebensschutzes für einen Teil der Menschheit verbunden sein sollte. Trotzdem: Außer der Bedrohlichkeit, die die Tooleysche Argumentation für mich hat, nehme ich auch das Bemühen wahr, die ethischen Markierungen über die Grenzen der Menschen, d.h. derer hinauszusetzen, die über sie bestimmen.
Wie sehr wünsche ich mir jedoch, daß in den Schutzwall des Ethischen wie Rechtlichen zunächst einmal Behinderte und alle Teile der Menschheit und Gesellschaft, denen zur Zeit noch andere Teile die Menschenwürde verweigern, unverbrüchlich solidarisch und tabugeschützt einbezogen würden und blieben. Die Ethik der Heilpädagogik hat meines Erachtens die Aufgabe, an der Verwirklichung dieser Zielvorstellung mitzuwirken.
Übereinstimmend mit Ingrid Blanke zitiere ich in diesem Sinne ihren Satz: „Eine heilpädagogische Anthropologie hat die ‚verborgenen Mechanismen‘ aufzudecken, welche die gleichzeitige deskriptive wie wertende Verwendung des einen Ausdrucks Mensch beherrschen und zu negativen Stellungnahmen gegenüber dem Menschsein von Behinderten führen können“(Blanke 1980, 79). Christoph Anstötz danke ich dafür, daß er mich herausgefordert hat, dieses Plädoyer für die Unversehrbarkeit menschlichen Lebens und für die Hoffbarkeit auf humane Zukunften zu formulieren.
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