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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hansjosef Buchkremer* Töten und Tabu

auf kulturale, gesellschaftliche Setzun­gen hin; denn durch Regeln pflegen sich menschliche Sozialordnungen gegenüber der Natur und gegeneinander abzuset­zen. Nach Levi-Strauss entsteht das Inzestver­bot auf der Berührungslinie von Natur und Kultur schlechthin. Er nimmt an, daß es Schlüsselfunktion dafür besitzt, dem Individuum seine Ein­maligkeit jenseits seiner biologischen und lebensräumlichen Zugehörigkeit zu ermöglichen: Ich bin einmalig, insofern ich nicht im Milieu meines biographi­schen Auftauchens auch untergehen muß, sondern bewußt aus dem System der Verwandtschaftsbeziehungen heraus­tretend mich selbständig zu begründen vermag. Hoffnung richtet sich nun darauf, daß die Menschen entsprechend der Genera­lität des Inzest-Tabus ebenso ein kultu­renübergreifendes generelles Tötungsta­bu entwickelten. Es hätte zu schützen Angehörige anderer Rassen, Völker, Re­ligionen, Ideologien ebenso wie Behin­derte, Kranke und auch Deviante bis hin zu Brechern des Tabus, also auch Mör­der und Kriegführende. Mit dem Inzest-Tabu eröffnet sich ge­mäß Levi-Strauss dem Individuum die Chance des abgrenzenden Selbstandes und der Eigentlichkeit. Mit dem Tötungs­Tabu würde sich die Menschheit die Mög­lichkeit schaffen, ihre Existenz als bio­logische Spezies durch die Definition der verbindenden wie trennenden Schwelle zu anderen Arten reflektiert ins Bewußtsein aufzunehmen. Man mag einwenden, dieser Prozeß der Wahrnehmung des Menschen als eine ein­zige Art sei längst erfolgt. Leider käme der Einwand zu Unrecht: Zwar scheint das Thema durch Las Ca­sas(14741566) Eintreten für die Aner­kennung der Indios als Ganz- und nicht als Halb-Menschen vor Karl V. historisch erfolgreich angesprochen. Aber gab und gibt es nicht bis zu blutiger Gegenwart

Vokabeln wieUntermenschen,

Systeme von Apartheid aus sexisti­schen, rassistischen und chauvinisti­schen Gründen,

Unterdrückung von Minderheiten,

Ghettoisierung von Ausländern,

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG

Krieg, Terror, Folter, Mord gegenüber Andersfarbigen, Andersdenkenden, Andershandelnden.

Überwiegt nicht in vielen Menschverhält­nissen das akzidentelle, sprich neben­sächliche Andere gegenüber dem exi­stentiellen, sprich hauptsächlichen Iden­tischen der Spezies?! Leider erweist sich die in unserem Zeitalter so mächtige Wis­senschaft nicht als Promotor des mensch­und menschheitsschützenden Tabus. Eng auf das von Einzeldisziplinen und Einzelwissenschaftlern untersuchte De­sign grenzen ihre Erkenntnisse eher das Kleinkarierte vom ebenfalls Kleinkarier­ten ab.

Da kann es dann ebenso Untersuchun­gen von Volkscharakteren und Rassen­unterschieden geben wie grundsätzliche Grenzziehungen zwischen Menschen, die das Recht auf Leben haben, und solchen, denen es ermangelt. Ermüdet vom Hin­starren auf die kleinen Müsterchen, kann es sogar passieren, daß die karierten Grenzen verschwimmen und daß Men­schenfleisch in Menüpläne bzw. Tiere in Personaldebatten einbezogen werden.

Trotzdem dürfen wir nicht mutlos wer­den: Wenn auch uneinheitlich, so sind doch in Mythos, Religion, Philosophie und Politik deutlichere Tendenzen in Richtung auf das geforderte Tötungsta­bu ausmachbar:

Wie in einer Art Vorübung finden wir in vielen Stammeskulturen die soge­nannten Totems. Bei ihnen handelt es sich in der Regel um eine Identifi­kation mit einer speziellen Tierart, die in Mythos und Symbol den Stamm verkörpert und nicht gegessen werden darf, gewissermaßen als Sinn­bild für die Schutzwürdigkeit aller Stammesangehörigen(vgl. Freud 1964).

Mit dem lapidaren GebotDu sollst nicht töten überschreitet der Deka­log die Stammesgrenzen und richtet vorgebildet und wiederholt durch an­dere Religionen den Schutzgedan­ken fast schon in Art eines Tabus auf jeden Menschen.

Schließlich enthält auch die Allgemei­ne Deklaration der Menschenrechte

Band XV, Heft 3, 1989

der Vereinten Nationen von 1948 die­ses Grundprinzip des Schutzes des menschlichen Lebens.

Die Grundgedanken des Tötungs-Tabus sind also vorhanden. Wenn es der Mensch­heit gelänge, das Tabu zu generalisieren, bedürfte es sanktionierender Maßnah­men: Es müßte konsequenterweise grundsätzlich bestimmt werden, womit die zuwider Handelnden einschließlich der Schreibenden geahndet werden sol­len. Mir schwebt vor, geduldiges und kommunikatives Mitleid sollte als ent­scheidende sanktionierende Antwort in geregelter und versöhnender Weise geübt werden.

Wo bleiben die Tiere, wenn in der Ab­grenzung homo sapiens sich selbst von seinen Tötungsmechanerien ausnimmt. Rechtfertigt nicht der prononcierte Tö­tungsstop gegenüber Menschen den Ho­locaust der Tiere, proportional ähnlich wie das Inzestverbot als Verbot der En­dogamie die Exogamie begünstigt, wenn nicht gar fordert?!

Wir müssen Geduld haben und ertragen, daß Lebewesen, die wir lieben, vieles er­tragen müssen, mehr als wir selbst ertra­gen könnten und wollten. Das liest sich wie eine zynische Floskel, aber leider ist es ehrlich gemeint.

Wenn Levi-Strauss es richtig sieht, stellt das Inzestverbot eine Schwelle dar, bei deren Überschreiten der Mensch sich nicht mehr nur wie einepflanzliche Durchgangsphase eines unendlichen Stammeslebens empfindet, sondern als Individuum aus seiner Herkunft heraus­tritt. Biologisch hat er wie viele andere Tiere diesen Schritt längst hinter sich, indem er wie Regenwurm, Ameise, Ei­dechse und Vogel nicht mehr ortsgebun­den ist, wie Pflanzen es sind. Aber diese biologische Freiheit zu einem psycholo­gischen Selbstbewußtsein zu bringen, bedurfte es des Menschen, im engeren Sinne des Inzest-Tabus.

Das als Idee und in ersten Ansätzen be­reits virulente Tötungs-Tabu gegenüber der eigenen Art dürfte ebenfalls psycho­logische Wiederkehr einer biologisch be­reits vorhandenen Selbstverständlichkeit sein: Tiere pflegen sich innerhalb ihrer Art in der Regel sowieso nicht tödlich

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