Hansjosef Buchkremer* Töten und Tabu
viel zu früh aus dem Uterus der Mutter entläßt und in mühevoller Anstrengung anstelle der verlorenen biologischen Uteralzeit einen„sozialen Uterus‘ frühkindlicher Hege einrichtet. In ihm erst erreicht das Menschen-Junge den Selbständigkeitsgrad(z.B. auf den eigenen Beinen zu stehen), den die Jungen der vergleichbaren Arten bereits unmittelbar nach der Geburt haben.
® Bolk stellt eine Fötalisation des Menschen über alle Lebensalter fest. Er belegt an zahlreichen Einzelmerkmalen, daß wir als erwachsene Menschen Eigenschaften beibehalten, die bei vergleichbaren Arten nur in der Fötalphase bis kurz nach der Geburt als Durchgangsstadium auftauchen: z.B. Unbehaartheit, die bauchwärts gerichtete Vagina, der pendelnde Penis und vieles anatomisch und medizinisch schwieriger Darzustellende mehr.
® Ich selbst vertrete die Annahme, daß homo sapiens in Urzeiten einer Mutation unterworfen war, bei der der Fötalzustand in ein ungebremstes Wachstum verfiel und die Föten über das Maß des Geburtsausganges ihrer Mütter hinauswuchsen. Tödlicher Ausgang für Kind und Mutter war gewiß, wenn nicht Frühgeburt(Portmann) die Mutter rettete. Tödlicher Ausgang für das frühgeborene Kind war gewiß, wenn nicht„sozialer Uterus“ seine Fortentwicklung zu relativer Selbständigkeit absicherte, Nur solche Mutanden hatten eine persönliche und genetische Replikationschance, bei denen die Mutation des unbegrenzten Fötalwachstums kompensiert wurde durch die weitere biologische Mutation der physiologischen Frühgeburt und die „soziale‘‘ Mutation des„sozialen Uterus‘“,
Sozialer Uterus heißt insbesondere Nahrung-Teilen(s. Leakey 1981, 92) zwischen Mutter und bereits geborenem Kind, lange über die(Nur-)Brustnahrung hinaus. Dies insbesondere, weil die Fötalisation lebenslang anhält, auch dann und ganz sicher, wenn das Kind endlich auf eigenen Beinen steht.
So ist denn im Genom unserer Art vorbereitet:
— Zygote und Embryo zu erwarten, längst ehe sie allein lebensfähig sind;
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— den Säugling im sozialen Uterus zu bergen mit der Chance, daß er homo sapiens nach sehr viel Aufzuchtbemühungen(und Liebe) weitervertritt;
— uns selbst als Fötalisierte immer als Unabgeschlossene, Werdende, Lernen de, fötal nach Verwöhnung Lechzende und letztlich Unvollkommene wahrzunehmen;
— unsere Behinderten als„Milchbrüder*‘ und Prototypen einer archaischen und möglicherweise futurischen Entwicklung unserer Art wahrzunehmen, mit ihnen zu teilen als Sammler- und Jäger-Spezies;
— keine innerartliche Tötungsdrohung haben zu müssen.(Daß und wenn wir sie haben, läßt sich dies als instinktive Entgleisung oder auch als biografischer Zwang verstehen. Artspezifisch ist sie jedoch nicht zwingend.)
IV. Über die Notwendigkeit eines menschheitsumfassenden Tötungstabus
Es ist also vorbereitet im Erbsatz unserer Art, daß wir einander keine innerartliche Tötungsbedrohung sein müssen. Was ist zu denken und zu tun, daß wir es auch wirklich nicht sind?
Meine Idee ist es, daß„homo sapiens‘“ ein die Art und damit alle Kulturen übergreifendes generelles Tabu festlegt, wonach die Tötung von Artgenossen in jedweder Form und aus jedwedem Anlaß verboten ist.
Daß der Gedanke in der Menschheit Fuß zu fassen vermag und damit nicht utopisch, d.h. ohne Grund und Boden bleiben muß, werde ich am Beispiel der Universalität des Inzest-Tabus verdeutlichen. Dazu bedarf es eines Exkurses:
Exkurs: Über die Universalität des Inzest-Tabus
1981 erschien bei Suhrkamp/Frankfurt in deutscher Sprache das Werk Claude L6vi-Strauss’„Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft‘. Als(Mit-)Begründer des Struk(uralismus vertritt der
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG
Autor die These, daß alle menschlichen Gesellschaften zusammengesetzt sind aus einem System relativ begrenzter Regeln. Darin gleichen sie der Vielzahl menschlicher Sprachen, die sich alle auf
eine relative„Wenigkeit‘“ von Lauten
bzw. Phonemen zurückführen lassen, und deren Unterschiede nicht durch die Art der„Bausteine“, sondern durch deren unterschiedliche Zusammenfügung begründet sind. L&vi-Strauss befaßt sich im besagten Werk mit Verwandtschaftsbeziehungen in den verschiedensten— voneinander vollkommen unbeeinflußten— Kulturen. Bekanntlich weichen die„Definitionen‘“, wer mit wem verwandt ist, von Kultur zu Kultur erheblich voneinander ab. Die uns übliche Denkweise der biologischen Linien wird dabei von scheinbar unverständlichen Beziehungsmustern durchbrochen oder überlagert. L&vi-Strauss zeigt,„daß auch die an der Oberfläche kompliziertesten und scheinbar unlogischsten Familienformen aus wenigen Grundstrukturen ableitbar sind, und daß sie sich in einer Matrix von zwei Tauschregeln(welche Gruppe tauscht mit welcher anderen eheliche Beziehungen?) und wenigen Grundbedingungen(wie Wohnsitz und Abstammungsregeln) zusammenfassen lassen“(Opolka 1983, 450).
Neben der phänomenalen Grundidee des Strukturalismus kommt Levi-Strauss bezüglich der Verwandtschaftsbeziehungen zu der Erkenntnis, daß diese alle einem Zweck verpflichtet sind: Der Verhinderung des Inzestes bzw. der endogamen Heirat innerhalb von Verwandtschaftskreisen und dem Gebot bzw. der Ermöglichung der exogenen Heirat.
Es ist zu komplex, um in diesem Beitrag die Argumente zu wiederholen, mit denen L6vi-Strauss die konventionellen Erklärungen für die Generalität des Inzest verbotes einschließlich der biologistischen von der Erbgesundheit widerlegt. In unserem Zusammenhang interessiert seine eigene Deutung: Die kulturübergreifende Generalität des Inzestverbots weist auf eine biologische Komponente hin. Kulturübergreifend generell sind nämlich ansonsten nur Eigenschaften, die im Erbgut des Menschen verankert sind. Die Norm des Inzestverbots weist
Band XV, Heft 3, 1989
