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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Hansjosef Buchkremer* Töten und Tabu

aus der Szene der Nahrungs-Not-Wen­de

aus der luxurierenden, technisch ent­grenzten Eßsucht

aus der Jagd- und Rangthematik

auch Motive eigener Vernichtetheit

Anlaß zu Gedanken und Sätzen der Ethi­

ker über die Tötungnoch Schwäche­

rer produzieren, als da sind Zygoten,

Föten, Säuglinge, Schwerstbehinderte 7

III. Über das Ethos(= Gewohntes in Wohngemeinschaften), Leben zu retten

Schlecht kommt homo sapiens weg, wenn wir nach instinktiven Mechanis­men suchen, die sein Leben sichern. Car­nivorer Hunger, luxurierende Eßlust, Jagdtendenz und Rangverhalten sowie zwanghafte Racheimpulse aus dem Ge­fühl der Selbstvernichtetheit machen ihn als Töter gefährlich, als Opfer gefährdet. Daß Behinderte häufiger als Opfer denn als Täter in Frage kommen, macht das Thema für die Heilpädagogik wichtig. Zunächst die Frage: Wie sieht es denn bei anderen Arten aus? Zur Beantwor­tung stütze ich mich auf die ausgezeich­nete Einführung in die biologischen Vor­aussetzungen sozialen Handelns von Pe­ter Meyer,Soziobiologie und Soziolo­gie(1982). Meyer faßt(S. 42 f.) zusam­men, daß in den agonalen Systemen tie­rischer Speziesdie Zahl ernsthafter oder gar letaler Folgen bei innerartli­chen Kämpfen erstaunlich niedrig blieb. Bei einer Vielzahl von Spezies wurden solche Kämpfe in stark ritualisierter Form ausgetragen, so daß solche gefähr­lichen Waffen wie etwa das Gehörn von Onyx-Antilopen niemals zu ernsthaften Beschädigungen führen konnten.

Der selektive Vorteil ist klar: Mutierten einzelne genetisch verwandte Gruppen von Spezies dahingehend, daß sie ihre Rangkämpfe ohne Tötung austrugen, so hatten ihre unterlegenen aber überleben ­den Individuen den Vorteil, daß sie in die Nischen derer eindringen konnten,

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die sich durch tödlichen Ausgang ihrer Kämpfe selbst dezimiert hatten.

Noch einmal: Homo sapiens hat wenig von dieser innerartlichen Sicherung. Sei­ne Tötungshemmung reicht allenfalls von Angesicht zu Angesicht und von der Faust bis zum Auge. Schon die Mythen unseres Kulturkreises sind des Entset­zens voll von Mord an Bruder und Ge­fährten; Namen bringen es in Erinne­rung: Kain und Abel, Romulus und Re­mus, Siegfried und Hagen.

Und doch: Wir leben noch! Und ganz ohne Güte ist auch unser Geschlecht nicht: Ich habe berichtet von der Rang­moral des Jägertums, das uns bis in die Wurzel geprägt hat. Aber sie ist nicht die Wurzel selbst. Für die Wurzel stehen zwei andere Fakten der Menschheits­evolution, die auch heute noch den Menschlichkeitsbaum begründen.

Die Hypothese des Essen-Teilens

Theorien zur Menschlichkeitsentwick­lung stimmen darin überein, daß das Jä­gertum begleitet, ja höchstwahrschein­lich über Jahrmillionen vorbereitet war durch das Sammlertum. Ich folge des weiteren Leakey(1981), der hierzu eine knappe Übersicht gibt: Sally Slocum weist darauf hin, daß auch bei den mei­sten heute noch existierenden Jäger­und Sammler-Kulturen die von den weib­lichen Partnern gesammelten pflanzli­chen Nahrungsmittel den größeren Teil der täglichen Nahrung ausmachen. Sie vermutet als Ursache für die lebenslan­gen Nahrungsgemeinschaften die immer länger werdende Zeitspanne kindlicher Unselbständigkeit. Adrienne Zihlmann und Nancy Tanner weiten die Theorie Slocums konsequenterweise dahin aus, daß auch die erwachsenen Frauen be­gannen, inkin-groups, d.h. bei aller­engster Blutsverwandtschaft, Sammelgut untereinander und auch für engste zuge­hörige männliche Mitglieder auszutau­schen. Glynn Isaac schließlich verbindet in seinerHypothese des Essensteilens den Austausch von Sammel- und Jagd­gut innerhalb der Sippen und Horden. Dabei geht er von einer Arbeitsteilung aus, bei der Frauen schwanger, nährend

Band XV, Heft 3, 1989

oder kinderhütend den Sammelpart, die biologisch unabhängigeren Männer den von außen her gefährlicheren Jagdpart übernahmen.

Der Schritt vom Alles-allein-Verzehren, das wahrscheinlich auch noch bei unse­ren ältesten Vorfahren(wie bei allen le­benden Primaten, Erg. d. Verf.) üblich war, zum Zusammentragen und gemein­samen Verzehren der Nahrung an einem Sammelplatz stellt zweifellos eine tief­greifende Änderung der Lebensweise dar(Leakey 1981,92). Der Mensch ist in der Wurzel seiner spezifischen Rollen kommensal, d.h. tischgemeinschaftlich. Er hat in seinem Verhaltensrepertoire die Chance, die leer ausgegangene Mit­sammlerin und ihr Kind sowie den er­folglosen Jäger in die Gemeinschaft der Essenden einzuladen. Daß Lazarus von den Brosamen, die vom Tisch der Rei­chen fallen, lebt, ist kein ethologischer Zwang von homo sapiens. Der Mensch hat die Freiheit, Lazarus schon irdisch an den Tisch Abrahams einzuladen, Wenn er sich hierfür entscheidet, bleiben ihm krude Gedanken über die Tötung von Zygoten, Embryonen, Säuglingen und Schwerstbehinderten erspart.

Die Theorie der physiologischen Frühgeburt(Portmann) und

der Fötalisation(Bolk)

des homo sapiens

Vor die Sozialität hat die Natur die Bio­logie gesetzt: Woher kam es wenn Adrienne Zihlmann Recht hat, daß es eine immer länger werdende Zeitspanne kindlicher Unselbständigkeit gab, die die Nahrungsteilung überlebensnotwendig machte?

An anderer Stelle(Buchkremer 1989) habe ich die Theorien Portmanns(1956) von derphysiologischen Frühgeburt und Bolks(1926) von der Fötalisation der Spezies homo sapiens zusammenge ­führt und aus dieser Kongruenz neue Schlüsse gezogen. Ich will dies hier in Kürze wiederholen:

® Portmann geht, biologisch begründet, davon aus, daß unsere Art, verglichen mit vergleichbaren Säugern(z.B. Elefan­ten, 21 Monate Tragezeit) ihre Jungen

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